Die Libelle
nach mir. Ankunft Stuttgart in einer Stunde zwanzig Minuten. Leb wohl, irisches Mädchen, willkommen unsere abgebrühte kleine christliche Rassistin aus dem Busch, die Anspruch auf ihr Erbe als Weiße erhebt. Als sie aus ›Damen‹ herauskam, stellte sie fest, dass der Soldat sie immer noch ansah. Er hat alles gesehen. Er ist drauf und dran, mich zu verhaften. Er denkt, ich hab’ Dünnschiß, und weiß nicht, wie nahe er der Wahrheit damit kommt. Sie starrte ihn ihrerseits an, bis er sich trollte. Er wollte bloß was zum Begucken, dachte sie und zog ihr Buch über Alpenblumen noch einmal heraus. Der Flug schien fünf Minuten zu dauern. Ein überfälliger Christbaum stand in der Ankunftshalle des Stuttgarter Flughafens. Es herrschte eine Atmosphäre allgemeiner Familiengeschäftigkeit, alle wollten nach Hause. Charlie stellte sich mit dem südafrikanischen Paß an, sah sich auf einem Plakat die Fahndungsfotos von Terroristinnen an und hatte das unbehagliche Gefühl, gleich ihrem eigenen Abbild zu begegnen. Ohne mit der Wimper zu zucken, passierte sie die Paßkontrolle. Als sie auf den Ausgang zuging, sah sie Rose, ihre südafrikanische Landsmännin, halb schlafend auf einen Rucksack gefläzt, aber Rose war für sie genauso tot wie Joseph und unsichtbar wie Rachel. Die automatischen Türen gingen auf, ein Wirbel von Schneeflocken schlug ihr ins Gesicht. Sie stellte den Mantelkragen hoch und eilte über den breiten Bürgersteig zum Parkhaus hinüber. Vierter Stock, hatte Tayeh gesagt; ganz hinten links; halten Sie nach einem Fuchsschwanz an der Antenne Ausschau. Folglich hatte sie sich eine weite ausgefahrene Antenne mit einem brandroten Fuchsschwanz oben dran vorgestellt, doch dieser Fuchsschwanz war eine schüttere Nylonimitation an einer Spirale und lag mausetot auf dem kleinen Dach des Volkswagens.
»Ich bin Saul. Und wie heißt du, Schätzchen?« sagte ganz in ihrer Nähe eine Männerstimme leise auf amerikanisch. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte sie, Arthur J. Halloran alias Abdul sei auferstanden, um sie heimzusuchen; als sie jedoch um den Pfeiler herumspähte, war sie erleichtert, als sie einen ziemlich normal aussehenden jungen Mann an der Wand lehnen sah. Lange Haare, Freizeitstiefel, frisches, träges Lächeln. Und einen »Rettet die Wale«-Button an der Windjacke wie sie. »Imogen«, antwortete sie, weil Tayeh ihr gesagt hatte, sich auf den Namen Saul einzustellen. »Mach die Kühlerhaube auf, Imogen. Und stell deinen Koffer rein. Und jetzt blick dich um. Vergewissere dich, ob dich jemand beobachtet hat. Ist dir irgend jemand verdächtig?« Sie ließ den Blick gemächlich prüfend durch die Parkhausetage wandern. Im Fahrerhaus eines Bedford-Kastenwagens, der mit verrückten Gänseblümchen übersät war, waren Raoul und ein Mädchen, das sie nicht richtig erkennen konnte, auf dem besten Weg zum Orgasmus. »Niemand«, sagte sie. Saul machte die Tür zum Beifahrersitz für sie auf.
»Und schnall dich bitte an, Schätzchen«, sagte er, als er neben ihr einstieg. »In diesem Land ist das Vorschrift, okay? Wo bist du denn gewesen, Imogen? Wo hast du dir denn diese Bräune geholt?«
Doch kleine Witwen, die auf Mord aus sind, lassen sich nicht auf banales Geplauder mit Fremden ein. Achselzuckend stellte Saul das Radio an und hörte sich die deutschen Nachrichten an. Der Schnee machte alles schön und ließ die Autos vorsichtig fahren. Sie fuhren durch das Durcheinander und fädelten sich dann in den Verkehr auf einer zweispurigen Landstraße ein. Dicke Flocken rasten auf ihre Scheinwerfer zu. Die Nachrichten waren vorbei, und eine Frauenstimme sagte ein Konzert an.
»Was dagegen, Imogen? Ist klassische Musik.«
Er ließ es trotzdem an. Mozart aus Salzburg, wo Charlie zu müde gewesen war, um mit Michel in der Nacht vor seinem Tod zu schlafen.
Sie fuhren am Rand der Helligkeitsglocke entlang, die über der Stadt lag, und die Schneeflocken tanzten darin wie schwarze Asche. Sie fuhren eine Kleeblattauffahrt hinauf, und unter ihnen, auf einem umzäunten Spielplatz, machten Kinder in roten Anoraks im Licht von Bogenlampen eine Schneeballschlacht. Ihr fiel ihre Gruppe in England ein - es war eine Ewigkeit her! Ich tue es für sie, dachte sie. Irgendwie hatte Michel das geglaubt. Irgendwie tun wir das alle. Alle bis auf Halloran, der aufgehört hatte zu begreifen, worum es eigentlich ging. Wieso musste sie immerzu an ihn denken? fragte sie sich. Weil er zweifelte, und gerade Zweifel hatte sie am meisten
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