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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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alles doppelt zu sein und zu geschehen habe: zwei Pläne, zwei Erkennungszeichen, bei allem eine zweite Möglichkeit, falls die erste fehlschlägt; eine zweite Kugel für den Fall, dass die Welt noch lebt.
    Khalil traut beim ersten Mal niemand , hatte Joseph gesagt. Aber Joseph war tot und begraben, ein abgelegter Prophet ihrer Jugend. Sie war Michels Witwe und Tayehs Soldat und war gekommen, in die Armee des Bruders ihres toten Geliebten einzutreten. Ein Schweizer Soldat musterte sie, ein älterer Mann, der mit einer Heckler & Koch-Maschinenpistole bewaffnet war. Charlie blätterte um. Hecklers waren ihre Lieblingswaffen. Beim letzten Übungsschießen hatte sie von hundert Schuss vierundachtzig in den Pappkameraden hineingejagt. Das war Bestleistung, nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer. Aus dem Augenwinkel heraus sah sie, dass er sie noch immer betrachtete. Voller Zorn kam ihr ein Gedanke. Mit dir mach’ ich, was Bubi mal in Venezuela gemacht hat, dachte sie. Bubi hatte den Auftrag erhalten, einen bestimmten faschistischen Polizeibeamten zu erschießen; wenn dieser morgens aus seinem Haus kam, eine sehr günstige Zeit. Bubi versteckte sich im Eingang und wartete. Die Zielperson trug eine Pistole unterm Arm, war aber auch ein Familienmann, der ständig mit seinen Kindern herumtobte. Als er auf die Straße hinaustrat, holte Bubi einen Ball aus der Tasche und warf ihn so, dass er die Straße hinunter auf den Mann zusprang. Ein Gummiball für Kinder - welcher Familienvater würde sich nicht automatisch bücken, um ihn aufzufangen? Sobald der Polizeibeamte das tat, trat Bubi aus dem Hauseingang und schoss ihn tot. Denn wer kann eine Waffe abfeuern, wenn er einen Gummiball auffängt?
    Jemand versuchte, sie anzusprechen. Pfeifenraucher, schweinslederne Schuhe, graue Flanellhose. Sie spürte, wie er unschlüssig stehen blieb und dann auf sie zukam.
    »Verzeihung«, sagte er. »Sprechen Sie vielleicht Englisch?« Standardausgabe, englische Mittelklasse, Chauvi, blond, um die Fünfzig und dicklich. Gab vor, sich zu entschuldigen. Nein, tu’ ich nicht , wollte sie zu ihm sagen; ich seh’ mir bloß die Bilder an . Diesen Typ hasste sie so sehr, dass sie sich ums Haar übergeben hätte. Sie funkelte ihn an, doch er ließ sich nicht so leicht abweisen, wie alle diese Typen.
    »Es ist nur, dass es hier so entsetzlich trostlos ist«, erklärte er. »Ich dachte, vielleicht hätten Sie Lust, etwas mit mir zu trinken? Ohne Hintergedanken. Würde Ihnen bestimmt gut tun.«
    Sie sagte, nein, vielen Dank. Es hätte nicht viel gefehlt, und sie hätte gesagt: »Mein Daddy sagt, ich darf nicht mit Fremden sprechen.« Nach einer Weile schob er entrüstet ab, suchte nach einem Polizisten, um sie zu verpfeifen. Sie selbst wandte sich wieder der Betrachtung des gemeinen Edelweiß zu und lauschte, wie die Halle sich füllte. Ein Paar Füße nach dem anderen. An ihr vorüber zum Käseladen. An ihr vorüber zur Bar. Auf sie zu. Und halt. »Imogen? Du kennst mich doch. Sabine.«
    Aufblicken. Pause, bis das Wiedererkennen dämmert. Lustiges Schweizer Kopftuch, um den undefinierbar braun gefärbten Bubikopf zu verbergen. Keine Brille, doch wenn Sabine eine aufsetzen würde wie die, die ich habe, könnte jeder schlechte Fotograf Zwillinge aus uns machen. Sie hatte eine große Tragetasche mit dem Aufdruck »Franz Carl Weber, Zürich« in der Hand, und das war das zweite Erkennungszeichen.
    »Himmel, Sabine! Das bist ja du!«
    Aufstehen. Sich förmlich einen flüchtigen Kuss auf die Wange geben. So ein Zufall! Wohin willst du denn?
    Doch leider fliegt Sabines Maschine gleich. Welch ein Jammer, dass wir uns nicht zusammenhocken und nach Herzenslust einen Weiberklatsch halten können, aber so ist das Leben nun mal, oder? Sabine legt die Tragetasche Charlie vor die Füße. Hab mal eben ein Auge drauf für mich, ja? - Klar, mach’ ich, Sabs. Sabine verschwindet in ›Damen‹. Dreist in der Tasche herumschnüffelnd, als gehörte sie ihr, zieht Charlie einen lustig bedruckten Umschlag mit einem Band darum heraus, ertastet die Umrisse eines Passes und eines Flugscheins darin. Tauscht beides glatt gegen ihren eigenen irischen Paß, den Flugschein und die Transitkarte aus. Sabine kommt wieder, schnappt sich die Tragetasche, muss mich beeilen, rechter Ausgang. Charlie zählt bis zwanzig und geht noch mal aufs Klo, wo sie sich diesmal richtig hinhockt. Baastrup, Imogen, Südafrika, liest sie. Geboren in Johannesburg, drei Jahre und einen Monat

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