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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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zu fürchten gelernt. Zweifeln heißt Verrat begehen , hatte Tayeh sie gewarnt.
    Joseph hatte ungefähr das gleiche gesagt. Sie waren in ein ganz anderes Land hineingefahren: Ihre Straße wurde zu einem schwarzen Strom, der durch Canons aus weißen Feldern und schneebeladenen Wäldern hindurchführte. Sie verlor das Zeitgefühl, dann das Gefühl für Größenverhältnisse. Sie sah Traumschlösser und die Umrisse von Miniaturdörfern, die sich wie bei einer Spielzeugeisenbahn vom blassen Himmel abhoben. Die Spielzeugkirchen mit den Zwiebeltürmen weckten in ihr das Bedürfnis zu beten, doch war sie schon zu erwachsen für sie; außerdem war Religion ohnehin nur was für Schwächlinge. Sie sah zitternde Ponys an Heuballen zupfen, und eins nach dem anderen fielen ihr die Ponys ihrer Kindheit wieder ein. Jedes Mal, wenn etwas Schönes an ihr vorüberzog, flog ihr Herz ihm zu, sie versuchte, sich daran festzuhalten und das Tempo zu bremsen. Doch nichts blieb, nichts hinterließ einen dauernden Eindruck in ihr; die Dinge waren Atemhauch auf blankgeputztem Glas. Gelegentlich wurden sie von einem Auto überholt; einmal zog ein Motorrad in hoher Geschwindigkeit an ihnen vorüber, und sie meinte, den sich immer weiter entfernenden Rücken von Dimitri zu erkennen, doch befand er sich bereits außerhalb der Reichweite ihrer Scheinwerfer, ehe sie sich ganz sicher war.
    Sie fuhren eine Bergkuppe hinauf, und Saul gab Gas. Sie fuhren nach links, überquerten eine Straße, dann wieder rechts, rumpelten einen Feldweg hinunter. Gefällte Bäume lagen links und rechts davon, wie erfrorene Soldaten in einer russischen Wochenschau. In der Ferne machte Charlie allmählich ein geschwärztes altes Haus mit hohen Schornsteinen aus, und einen Moment erinnerte es sie an das Haus in Athen. Raserei, nennt man das so ? Saul hielt an und blinkte zweimal mit der Lichthupe. Eine Taschenlampe blinkte eine Antwort, offenbar aus der Mitte des Hauses heraus. Saul warf einen Blick auf die Armbanduhr und zählte leise die Sekunden. »Neun -zehn - jetzt «, sagte er, und in der Ferne blinkte nochmals das Licht auf. Er lehnte sich über sie hinüber und stieß die Tür für sie auf.
    »So, weiter bring’ ich dich jetzt nicht, Schätzchen«, sagte er. »Die Unterhaltung war hochinteressant. Frieden, okay?« Den Koffer in der Hand, wählte sie eine Fahrspur im Schnee und ging auf das Haus zu. Nur der bleiche Schimmer des Schnees und Streifen von Mondlicht zwischen den Bäumen wiesen ihr den Weg. Als das Haus näher kam, erkannte sie einen alten Glockenturm ohne Uhr und einen zugefrorenen Teich, ohne Statue auf dem Sockel. Unter einem hölzernen Schutzdach blinkte ein Motorrad. Plötzlich hörte sie, wie eine vertraute Stimme sie verschwörerisch gedämpft ansprach. »Imogen, pass auf das Dach auf. Wenn dich ein Ziegel trifft, bist du mausetot. Imogen - ach, Charlie - das ist zu albern!« Gleich darauf hatte sich eine kräftige Gestalt aus dem Schatten des Vorbaus gelöst, um sie zu umarmen, die Taschenlampe und die automatische Pistole behinderten sie dabei nur leicht.
    Von einer Flut lächerlicher Dankbarkeit gepackt, erwiderte Charlie Helgas Umarmung. »Helg - Himmel - du bist das -phantastisch!«
    Im Licht der Taschenlampe geleitete Helga sie über den Marmorboden der Halle, bei dem die Hälfte der Steine schon herausgerissen war, dann vorsichtig eine geländerlose, gefährlich sich neigende Holztreppe hinauf. Das Haus starb, doch irgend jemand musste versucht haben, seinen Tod noch zu beschleunigen. Die weinenden Wände waren in roter Farbe mit Parolen beschmiert, Türgriffe und Lampenanschlüsse herausgerissen worden. Feindselige Abwehr gewann wieder die Oberhand, und Charlie versuchte, Helga die Hand zu entziehen, doch die hielt sie gepackt, als gehörte sie ihr. Sie durchquerten eine Flucht leerstehender Räume, von denen ein jeder groß genug war, um ein Bankett darin zu veranstalten. Im ersten stand ein zerschlagener Kachelofen, der mit Zeitungen vollgestopft war. Im zweiten eine Handdruckpresse; sie war völlig verstaubt und der Boden rings herum knöchelhoch mit den vergilbten Infos und Flugblättern der Revolutionen von gestern bedeckt. Sie betraten einen dritten Raum, und Helga richtete ihre Taschenlampe auf einen Haufen von Aktenordnern und Papieren, die man in einen Alkoven geworfen hatte. »Weißt du, was meine Freundin und ich hier machen, Imogen?« wollte Helga plötzlich mit lauter Stimme wissen. »Meine Freundin ist einfach phantastisch.

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