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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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Sie heißt Verona, und ihr Vater war ein Nazi, wie er im Buche steht. Junker und Industrieller, alles.« Ihr Griff lockerte sich, um sich gleich darauf wieder um Charlies Handgelenk zu schließen. »Er ist gestorben, und jetzt verkaufen wir ihn aus Rache. Die Bäume den Baumvernichtern. Das Land den Landzerstörern. Skulpturen und Möbel an den Flohmarkt. Was fünftausend wert ist, verkaufen wir für fünf. Hier hat der Schreibtisch ihres Vaters gestanden. Den haben wir eigenhändig zerhackt und im Kamin verbrannt. Ein Symbol. Dies hier war das Hauptquartier seiner faschistischen Kampagne - er hat seine Schecks an diesem Schreibtisch unterzeichnet und all seine repressiven Maßnahmen eingeleitet. Wir haben das Ding kaputtgemacht und verbrannt. Jetzt ist Verona frei. Sie ist arm, aber sie ist frei und hat sich den Massen angeschlossen. Ist sie nicht phantastisch? Vielleicht hättest du das auch tun sollen.«
    Eine gewundene Dienstbotentreppe führte zu einem langen Korridor hinauf. Helga ging wortlos voran. Über ihnen hörte Charlie Folkmusic und roch die Dämpfe von brennendem Paraffin. Sie gelangten an einen Treppenabsatz, gingen an den Türen etlicher Dienstbotenkammern vorüber und blieben vor der letzten stehen. Unter der Tür sah man einen Lichtstreifen. Helga klopfte und sagte leise etwas auf deutsch. Ein Schlüssel wurde umgedreht, und die Tür ging auf. Helga trat als erste ein und winkte Charlie, ihr zu folgen. »Imogen, das hier ist die Genossin Verona.« Ein leichter Befehlston war in ihre Stimme gekommen. »Vero!«
    Ein pummeliges, verwirrt wirkendes Mädchen erwartete sie. Sie trug eine Schürze über weiten schwarzen Hosen, und ihr Haar trug sie geschnitten wie ein Junge. Eine Pistolentasche mit einer Smith & Wessen darin hing über ihrer fetten Hüfte. Verona wischte sich die Hände an der Schürze ab, dann schüttelten sie sich bürgerlich die Hände.
    »Vor einem Jahr war Verona genauso faschistisch wie ihr Vater«, verkündete Helga mit der Autorität des Besitzers. »Sklavin und Faschistin in einem. Und jetzt kämpft sie. Stimmt’s, Vero?« Wieder entlassen, verschloss Verona die Tür und zog sich in eine Ecke zurück, wo sie auf einem Camping-Kocher irgend etwas kochte. Charlie fragte sich, ob sie wohl insgeheim vom Schreibtisch ihres Vaters träumte.
    »Komm. Schau, wer noch hier ist«, sagte Helga und trieb sie weiter durch den Raum. Charlie blickte sich rasch um. Sie befand sich auf einem großen Dachboden, genau wie der, auf dem sie während der Ferien in Devon unzählige Male gespielt hatte. Die schwache Beleuchtung stammte von einer Ölfunzel, die von einem Dachsparren herunterhing. Vor die Dachfenster hatte man dicke Lagen von Samtvorhängen genagelt. Ein lustiges Schaukelpferd hob an einer Wand die Beine; daneben stand auf einer Staffelei eine Schreibtafel. Ein Straßenplan war darauf gezeichnet, und farbige Pfeile zeigten auf ein großes rechteckiges Gebäude in der Mitte. Auf einem alten Tischtennistisch lagen Reste von Salami, Schwarzbrot und Käse. Vor einem Ölofen hingen Kleidungsstücke für beide Geschlechter zum Trocknen. Die beiden waren vor einer kurzen Holztreppe angelangt, und Helga stieg mit ihr hinauf. Auf dem erhöhten Fußboden lagen zwei Wasserbetten nebeneinander. Auf dem einen, bis zur Hüfte und noch weiter hinunter nackt, lehnte der dunkelhaarige Italiener, der Charlie an jenem Sonntag morgen in der Londoner City mit der Pistole in Schach gehalten hatte. Er hatte sich eine zerfetzte Decke über die Oberschenkel gelegt, und sie bemerkte um ihn herum die auseinander genommenen Teile einer Walther-Automatic, die er gerade reinigte. Ein Transistorradio neben seinem Ellbogen spielte Brahms.
    »Und hier haben wir den energiegeladenen Mario«, verkündete Helga mit sarkastischem Stolz und berührte mit dem Zeh seine Genitalien. »Mario, du bist absolut schamlos, weißt du das? Bedeck dich augenblicklich, und begrüße unseren Gast. Ich befehle es dir.« Doch Marios einzige Reaktion bestand darin, sich spielerisch an den Rand des Bettes zu rollen und so zu sich einzuladen, wer immer Lust hätte. »Wie geht’s dem Genossen Tayeh, Charlie?« fragte er dann. »Du musst uns den neuesten Familientratsch erzählen.« Als ein Telefon klingelte, wirkte das wie ein Schrei in einer Kirche - und auf Charlie um so erschreckender, als ihr nie in den Sinn gekommen war, dass sie eines haben könnten. Um Charlies Stimmung zu heben, hatte Helga vorgeschlagen, sie sollten alle auf Charlies

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