Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
Vom Netzwerk:
im Unterhaus. »Du musst Hera sein«, sagte Joseph zu Lucy mit genauso viel Gefühl, als ob er eine Landkarte studierte. Das war der Augenblick, als sie die dramatische Entdeckung machte: Er hatte diese Narben! Lucy konnte kaum an sich halten. Am reizvollsten von allen war ein säuberliches Bohrloch von der Größe eines Fünf-Pence-Stückes, wie einer von den Einschussloch-Aufklebern, die Pauly und Willy an ihrem Mini-Morris hatten, nur befand dieses hier sich auf der linken Seite seines Bauches! Aus der Ferne konnte man die Narbe nicht erkennen, doch als sie sie berührte, fühlte sie sich glatt und hart an.
    »Und du bist Joseph«, erwiderte Lucy ein wenig verwirrt, denn sie hatte keine Ahnung, wer Hera war.
    Wieder wehte Applaus über den Sand herüber, als Alastair sein Glas hob und ihm zuprostete: »Joseph! Mr. Joseph, Sir! Viel Glück, und ihre neidischen Brüder zum Arsch!«
    »Kommen Sie doch rüber zu uns, Mr. Joseph!« rief Robert, worauf Charlie ihm wütend über den Mund fuhr, er solle doch die Klappe halten.
    Doch Joseph kam nicht zu ihnen herüber. Er hob den Becher, und Charlie wollte es in ihrer rasenden Phantasie vorkommen, als trinke er insbesondere ihr zu; doch wie wollte sie das bei einer Entfernung von zwanzig Schritt so genau feststellen, wenn ein Mann einer ganzen Gruppe zutrank? Dann wandte er sich wieder seinem Buch zu. Nicht, dass er sie vor den Kopf stieß; er habe weder positiv noch negativ reagiert, wie Lucy es hinterher ausdrückte, sondern habe sich bloß wieder auf den Bauch gewälzt und weiter gelesen, und - du meine Güte! - es sei wirklich die Narbe von einer Kugel; die Ausschuss narbe, groß wie von einer MP, habe er auf dem Rücken! Während Lucy sich nicht von diesem Anblick losreißen konnte, ging ihr auf, dass es sich nicht nur um eine einzelne Wunde handelte, sondern um eine ganze Menge: die Arme seien unten am Ellbogen ganz vernarbt; hinten am Bizeps kleine Inseln von haarloser und unnatürlicher Haut; und das Rückgrat geradezu durchgescheuert , sagte sie - »als ob jemand ihn mit glühender Stahlwolle bearbeitet hätte« -, wer weiß, vielleicht hatte ihn sogar jemand kielgeholt? Lucy blieb noch ein Weilchen, tat so, als werfe sie über seine Schulter einen Blick in sein Buch, während er umblätterte, doch in Wirklichkeit wollte sie ihm gern mal über das Rückgrat streichen, denn abgesehen davon, dass es narbig war, war es auch noch behaart und lag tief zwischen zwei Muskelwülsten: ein Rückgrat, wie sie es besonders gern hatte. Aber sie tat es nicht, denn, erklärte sie Charlie hinterher, wenn sie ihn einmal gestreichelt hätte, wisse sie nicht, ob sie es dann jemals wieder tun dürfe. Sie habe sich gefragt - erklärte Lucy in einer seltenen Aufwallung von Bescheidenheit -, ob sie nicht zumindest erst mal anklopfen solle; ein Satz, der Charlie hinterher nicht mehr aus dem Sinn ging. Lucy hatte überlegt, ob sie nicht seine Feldflasche ausgießen und mit Wein füllen sollte, doch habe er am Wein kaum genippt, und vielleicht trank er Wasser lieber? Schließlich hatte sie sich den Weinkrug wieder auf den Kopf gesetzt und war lässig tänzelnd zur Familie zurückgekehrt, wo sie ziemlich atemlos Bericht erstattete, bis sie bei irgend jemand - auf dem Schoß einschlief. Joseph galt fortan cooler denn je. Der Vorfall, durch den die beiden förmlich miteinander bekannt gemacht wurden, ereignete sich am nächsten Nachmittag, und den Anstoß dazu gab Alastair. Long Al sollte abreisen. Sein Agent hatte ihm ein Telegramm geschickt, und das war schon ein Wunder an sich. Bis zu diesem Tag hatte man nicht ohne Grund angenommen, dass sein Agent diese kostspielige Form der Kommunikation einfach nicht kenne. Das Telegramm war morgens um zehn mit einer Lambretta zum Bauernhaus hinausgekommen und dann von Pauly und Willy, die sich einen langen Morgen im Bett gegönnt hatten, zum Strand hinuntergebracht worden. Es enthielt ein Angebot, was mit möglicherweise größere Filmrolle‹ umschrieben war, und das wieder war eine große Sache innerhalb der Familie, denn Alastair hatte nur den einen Ehrgeiz, die Hauptrolle in großen, aufwendigen Filmen zu spielen oder, wie sie es nannten, das Kinopublikum so weit zu bringen, dass es Rotz und Wasser weinte. »Ich bin einfach zu stark für sie«, erklärte er jedes Mal, wenn er sich im Filmgewerbe eine Absage holte. »Er muss sich eine Besetzung suchen, die es mit mir aufnehmen kann, und das weiß das Schwein natürlich.« Daher freuten sie sich

Weitere Kostenlose Bücher