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Die Libelle

Die Libelle

Titel: Die Libelle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John le Carré
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praktisch Szene für Szene durch; nur, dass Joseph beide Teile der Unterhaltung bestritt. »Sie ist so viele Menschen in einer Gestalt, würde ich sagen. Wenn man verfolgt, wie sie sich im Lauf des Stückes entfaltet, hat man das Gefühl, es mit einer Person zu tun zu haben, in der ein ganzes Regiment widerstreitender Charaktere stecken. Sie ist gut, sie ist klug, ist irgendwie verloren, sie begreift zuviel, verspürt sogar etwas wie eine Verpflichtung der Gesellschaft gegenüber. Ich würde sagen, dass dir diese Rolle wie auf den Leib geschrieben ist.« Sie konnte nicht anders. »Jemals in Nottingham gewesen, Jose?« wollte sie wissen und starrte ihn offen an, gab sich nicht die Mühe zu lächeln.
    »Nottingham? Ich fürchte, nein. Sollte ich das? Ist Nottingham etwas, was man gesehen haben muss? Warum fragst du?«
    In ihren Lippen kribbelte es. »Ach, nur, dass ich letzten Monat dort gespielt habe. Ich hoffte, du hättest mich vielleicht gesehen.«
    »Wie wahnsinnig interessant! Worin hätte ich dich sehen sollen? In was für einem Stück?«
    »In der Heiligen Johanna . Shaws Heiliger Johanna . Ich habe die Johanna gespielt.«
    »Aber das ist eines meiner Lieblingsstücke! Es vergeht bestimmt kein Jahr, ohne dass ich nicht die Einleitung zur Heiligen Johanna lese. Spielst du sie wieder? Vielleicht bietet sich mir nochmals die Gelegenheit.« »In York haben wir auch gespielt«, sagte sie, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
    »Wirklich? Dann seid ihr also damit auf Tournee gegangen. Wie schön.«
    »Ja, nicht wahr? Bist du auf deinen Reisen nicht mal nach York gekommen?»
    »Ach, leider bin ich nie weiter nach Norden raufgekommen als nach Hampstead, London. Aber ich habe gehört, dass York sehr schön ist.«
    »Ach, York ist phantastisch. Besonders das Münster.«
    Sie starrte ihn weiter an, solange sie es aushielt, das Gesicht in der ersten Reihe Parkett. Sie forschte in seinen dunklen Augen und in der glatten Haut, die sie umgab, nach dem kleinsten Zucken von Komplizenschaft, Lachen, doch alles blieb unbewegt, verriet nichts.
    Er leidet unter Gedächtnisschwund, zu diesem Schluss kam sie.
    Oder ich. Du meine Güte!
    Er lud sie nicht zum Frühstück ein; sie hätte bestimmt abgelehnt. Er rief einfach nach dem Kellner und fragte auf Griechisch, welcher Fisch heute frisch sei. Tat das mit Autorität, weil er wusste, dass sie gern Fisch aß, hielt den Arm in die Höhe gereckt wie ein Dirigent, der Einhalt gebietet. Schickte den Kellner dann fort und redete
    weiter mit ihr übers Theater, als wäre es das Selbstverständlichste auf der Welt, um neun Uhr morgens an einem Sommertag Fisch zu essen und Wein zu trinken - obwohl er für sich selbst Coca-Cola bestellte. Er wusste, worüber er redete. Mochte er auch nicht weiter oben im Norden gewesen sein, so besaß er doch eine eingehende
    Kenntnis der Londoner Theaterwelt, etwas, was er sonst keinem der Gruppe enthüllt hatte. Und während er redete, befiel sie das verunsichernde Gefühl, das sie von Anfang an bei ihm gehabt hatte: dass seine äußere Erscheinung wie auch sein Aufenthalt hier ein Vorwand waren - er hatte die Aufgabe, eine Bresche zu schlagen, durch die er sein anderes, sein durch und durch diebisches Wesen wie durch Zauberhand hinauslassen konnte. Sie fragte ihn, ob er oft nach London komme. Er beteuerte, nach Wien sei London die einzige Stadt in der Welt, die es lohne.
    »Wenn sich die kleinste Gelegenheit ergibt - pack’ ich sie beim Schöpfe«, erklärte er. Manchmal machte selbst das Englisch, das er sprach, den Eindruck, als habe er es sich auf unredliche Weise angeeignet. Sie dachte an gestohlene Stunden nächtlichen Lesens in einem Buch mit Redewendungen - soundso viele idiomatische Wendungen, die pro Woche zu lernen waren.
    »Wir haben die Heilige Johanna aber auch in London aufgeführt - gerade erst, weißt du -, so vor ein paar Wochen.« »Im West-End? Aber das ist ja jammerschade, Charlie! Warum hab’ ich nur nichts davon gelesen? Warum bin ich nicht sofort hingegangen?«
    »Im East -End«, berichtigte sie ihn mit umdüsterter Miene. Am nächsten Tag trafen sie sich in einer anderen Taverne wieder, ob zufällig, konnte sie nicht sagen, instinktiv zweifelte sie daran - und diesmal fragte er sie beiläufig, wann sie glaube, dass die Proben für Wie es euch gefällt losgehen würde, und sie antwortete, ohne über etwas anderes als über Alltägliches plaudern zu wollen, nicht vor Oktober, was - da sie ihr Theater kenne - bedeuten könne, selbst dann

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