Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
zum ersten Mal verstand er, warum sein Vater so lange geschwiegen hatte. Dass es nicht Bosheit und nicht einmal die Ergebenheit seinem König gegenüber gewesen war, was ihm die Zunge gebunden hatte, sondern die Angst eines Vaters sein einziges Kind zu verlieren.
Das Zimmer war sauber. Ein schmales Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Crystal hatte aufgehört zu zählen die wievielte Taverne das war, in der sie nächtigten. Irgendwie sahen sie alle gleich aus. Überall dasselbe einförmige Essen, überall dieselben Menschen. Bauern, die sich nach der Arbeit bei einem Bier zusammensetzten um ihre Geschichten zu erzählen und die für zwei Fremde nur fragende Blicke und Unverständnis hatten, sonst nichts. Müde löste sie ihr Haar und versuchte es mit den Fingern zu entwirren. Wenigstens konnte sie heute Nacht allein in einem Zimmer schlafen. Nicht immer fanden sie eine Taverne, in der zwei Zimmer frei waren und sie hatte schon mehr als einmal mit Lucthen in einem Raum geschlafen. Anfangs war ihr das schrecklich unangenehm gewesen – immerhin war er ein fremder Mann. Doch der Magus hatte sie stets mit kühler Höflichkeit, wenn nicht gar mit Desinteresse betrachtet, so dass sie ihre Scheu bald verloren hatte. Erst in den letzten Tagen fingen sie langsam an sich besser zu verstehen, schien ihr. Crystal setze sich auf den Stuhl und zog aus ihrer Tasche Papier und Feder hervor. Alle paar Tage schrieb sie an Joy. Sie vermisste das Kind ganz furchtbar und wenn sie ihr erzählte, was sie alles erlebt hatte, fühlte sie sich meist besser.
Dass sie ein Lied vorgetragen hatte und daraufhin für die Nächtigung nicht zu zahlen brauchten, schrieb sie. Nicht, dass sie in Geldnöten gewesen wären, denn die Talosreiter hatten darauf bestanden, dass sie Gold von ihnen nahm; ziemlich viel sogar. Crystal ging sparsam damit um, denn sie hatte vor den Rest, den sie nicht brauchen würde, wieder zurückzuzahlen. Lucthen hatte scherzhalber gemeint, dass sie öfter für Kost und Logis singen sollte, doch Crystal hatte seinen Vorschlag abgelehnt. Es war vermutlich klüger, wenn sie nicht allzu viel Aufmerksamkeit darauf lenkte, dass sie eine Liedmeisterin war. Sie wollte sich und Lucthen nicht unnötig in Gefahr bringen.
Auch von Lucthen erzählte sie. Leise nagte das schlechte Gewissen an ihr, als sie daran dachte, dass sie ihn in einem ihrer letzten Briefe als großen, hageren Mann mit Hakennase beschrieben hatte, der ziemlich unnahbar war. Dabei musste sie gestehen, dass ihr anfangs sehr distanziertes Verhältnis vermutlich ihrem eigenen Verhalten zuzuschreiben war. Nach ihrer Audienz bei den Dreien war sie ein paar Tage lang vor Schmerz wie betäubt gewesen. Immer noch dachte sie jeden Tag an Rhys und Lucia, doch ihre eigenen Worte spendeten ihr Trost: die Beiden waren in das Licht Lucis’ eingegangen, es ging ihnen gut – wo auch immer sie jetzt waren. Crystal fühlte, dass die Wunde langsam zu heilen begann, auch wenn sie wohl immer Narben zurückbehalten würde. Sie merkte wie sehr sie sich durch die erlebten Schrecken verändert hatte, wie ruhig und in sich gekehrt sie geworden war. War sie wirklich dieselbe Frau, die Rhys einst lachend als Wildkatze bezeichnet hatte? Manchmal träumte sie von den eigenartig gekleideten Frauen und ihren Waffen, dann wachte sie schweißgebadet auf und hatte Mühe wieder einzuschlafen. Doch je mehr Zeit verstrich, desto schwächer wurde der Schmerz und umso stärker ihre Wut. Diese Frauen hatten sie nicht getötet! Es war Zeit, dass sie wieder anfing zu leben.
Kapitel 3
Corus stieß Dawn in die Seite und zeigte auf die beiden Gestalten, die erst vor kurzem den Schankraum betreten hatten. Dawn folgte seinem neugierigen Blick und wusste gleich, was Corus’ Interesse geweckt hatte. An einem Tisch in der Ecke saß ein großer, dunkler Mann in Magiroben; neben ihm hatte eine hübsche, rothaarige Frau Platz genommen. „Jetzt bist du wohl froh, dass der Magus erst aufgetaucht ist, nachdem die Vorführung vorüber war, was?“, fragte Dawn um ihren Freund zu necken. Als sie seinen verletzten Gesichtsausdruck bemerkte, lenkte sie jedoch sofort wieder ein. „Komm, wir setzen uns zu ihnen.“ Corus schien nicht allzu begeistert, doch Dawn zog ihn einfach mit sich. „Guten Abend und möge das Licht eure Wege erleuchten“, grüßte Dawn, als sie bei dem Tisch angekommen waren, an dem die beiden Fremden saßen.
„ Mögen die Lichten ihre schützende Hand über euch halten“, erwiderte der
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