Die lichten Reiche: Band 1: Harfe und Schwert (German Edition)
während Thistle und Corus Holz gesucht hatten. Dann war sie müde geworden, so müde, dass ihr die Harfe aus den Fingern geglitten war. Ein leises Geräusch erregte Crystals Aufmerksamkeit. War das nicht, fast unhörbar unter all den anderen Geräuschen des Waldes, das Weinen eines Kindes? Sie stand mit einem Ruck auf und lauschte. Unwillkürlich griff sie nach der Harfe und machte ein paar Schritte in die Richtung, in der sie das Weinen hörte. Sie war sich jetzt ganz sicher, das Geräusch zerrte an ihrem Herzen und sie folgte dem Geräusch ohne daran zu denken, dass die Anderen sich Sorgen machen würden, wenn sie verschwunden war. Immerhin, sie waren auch verschwunden. Einen Moment lang wunderte sie sich darüber, doch dann beanspruchte die dünne Stimme ihre ganze Aufmerksamkeit. Crystal fragte sich, ob es auf der ganzen Welt ein schlimmeres Geräusch geben konnte, als das Weinen eines Kindes? Sie hatte ihr Leben lang gelernt auf Stimmen und Klänge zu achten. Immer schon hatten die Stimmen von Kindern eine ungeheure Faszination auf sie ausgeübt, weil sie unverstellt und echt waren. Crystal duckte sich unter Zweigen hindurch, bog Äste aus dem Weg und stieg über umgefallene Baumstämme. Nach einer Weile hielt sie atemlos inne. Sie wusste nicht, wie lange sie dem Geräusch jetzt schon nachging, doch sie kam ihm einfach nicht näher. Sie konnte es immer noch hören, ein Seufzen im Wind, oder war es doch nur der Wind? Vielleicht war sie in die falsche Richtung gegangen, sagte sie sich. Es war wirklich schwer auszumachen, woher das Geräusch kam. Frustriert atmete sie ein paar Mal tief durch um wieder zu Atem zu kommen und strich sich ein paar Strähnen aus dem Gesicht, die sich aus ihrer Frisur gelöst hatten. Dann stand sie ganz still, atmete nicht um kein Geräusch zu machen und lauschte. Das Weinen schien von überall her zu kommen, als wäre die ganze Welt voll Leid, das sie heilen sollte. Sie wollte schon aufgeben, doch dann wusste sie instinktiv in welche Richtung sie sich wenden musste. Sie ging weiter und weiter. Der Wald wurde immer dichter, die Strahlen der Sonne erreichten den Boden hier nicht mehr, wurden von den Blättern der großen Bäume eingefangen. Die Pflanzen am Boden lebten in ewiger Dunkelheit. Crystal schauderte kurz bei diesem Gedanken, doch sie zwang sich weiter zu gehen. Plötzlich sah sie aus den Augenwinkeln eine Bewegung und als sie den Kopf drehte wurde das Weinen lauter. Ohne zu zögern ging sie in diese Richtung und kurz darauf sah sie wieder eine Bewegung. Waren das nicht wirbelnde Röcke gewesen? Flicken von braunem, grünem und blauem Stoff? Crystal hielt kurz inne. Kannte sie die Stimme nicht? Doch das war unmöglich. Wie sollte sie hierher kommen? Hazel hätte das doch bestimmt nicht erlaubt. Und was wenn sie Thistle heimlich nachgereist war? Sie beschleunigte ihre Schritte. Sie sah einen dunklen Haarschopf im Geäst hervorblitzen. Freche, vom Kopf abstehende Zöpfe, Perlen, wie kleine Monde im Haar. Jetzt war sie ganz sicher. „Lia! Ich bin es. Lauf nicht weg“, rief sie. Doch das Kind hörte nicht auf sie, lief leichtfüßig wie ein Rehkitz immer weiter und zog die Klagelaute wie Dunst hinter sich her. Crystal hatte keine andere Wahl, als ihr zu folgen. Doch es wurde immer schwieriger. Bald keuchte sie laut und das rasselnde Geräusch ihres Atems überdeckte den Klagelaut, welchem sie folgte. Tränen der Frustration stiegen in Crystals Augen, als sie über eine Wurzel stolperte und der Länge nach auf den Boden aufschlug. Benommen blieb sie ein paar Atemzüge lang liegen, versuchte wieder zu Atem zu kommen. Als sie schließlich den Kopf hob sah sie das Gesicht eines Kindes, das sie aus großen Augen anblickte. Crystal erstarrte. Das war nicht möglich! Sie hatte wohl vor Anstrengung den Verstand verloren. Das feingeschnittene Gesicht wurde von einer Fülle dunkler Haare umrahmt. In den hellen Augen schwammen Tränen und kleine Klagelaute drangen über Joys Lippen. Crystal hob unwillkürlich die Hand um nach ihrer kleinen Nichte zu greifen, sie an sich zu ziehen und zu trösten, wie sie es schon so oft getan hatte. Doch Joy wich zurück, wie ein wildes Tier vor der Hand des Tierbändigers zurückschreckt. Ihre traurigen Augen bohrten sich vorwurfsvoll in Crystals. „Du hast mich einfach verlassen!“, schienen sie Crystal entgegenzuschleudern. Dann wandte sie sich um und lief in die entgegengesetzte Richtung, in die Lobelia gelaufen war. Mit einem Satz war Crystal auf den
Weitere Kostenlose Bücher