Die Lichtermagd
Sein Tonfall ließ keinen Zweifel, was er von ihrem Verstand hielt.
»Die Alternative ist, auf Hosto Stromers Wort zu vertrauen«, erwiderte Wenzel.
Mose sah nachdenklich auf seine Pergamente. Dann nickte er entschlossen. »Wir missten einen Plan machen. De Leit missten genau die Zeit abmessen.Wenn zu file Leit durch die Gossen laufen, wird das jemand merken. Ale missen Bescheid wissen.« Er sah sie ernsthaft an. »Ale, die rauswolen natirlik.«
»Wenn Nathan wirklich bleiben und kämpfen will«, sprach Wenzel langsam, »dann kann uns das mehr Zeit erkaufen. Je mehr Widerstand es in der Stadt gibt, desto mehr Leute können wir rausschaffen.«
Mose nickte schwer. »Ich red mit Nathan.«
Die Nacht zum fünften Dezember war längst dem grauen Morgen gewichen. Das Brunnengässlein befand sich im Schatten der hohen Mauern des Dominikanerklosters am Hang des Berges, auf dessen Gipfel sich die Kaiserburg erhob. Im Bierkeller am Brunnen lag der einfachste Einstieg in die Felsengänge. Die Schankmagd Alva hatte ihnen vor drei Tagen die Tür geöffnet. »Niemand hat so was verdient«, sagte sie. Dann überließ sie ihnen das leere Haus.
Die Gänge zogen sich unter vielen Häusern hindurch und waren in mehreren Systemen miteinander verbunden. Man konnte immer mal wieder eine Strecke unterirdisch zurücklegen, um unter der Stadt hindurch zu gelangen. Doch immer wieder musste man kurze Strecken über die Straßen huschen, um in das nächste Gangsystem zu gelangen, denn die meisten Keller waren nicht so einfach verbunden wie unter den Häusern vonYsaac und Gottschalk. Bei anderen Häusern gab es nur einen Durchschlupf von der Größe eines Kindes, oder die be ängstigend engen und grob behauenen Gänge der Lochwasserleitungen, in denen das Wasser wadenhoch in einem steten Rinnsaal durchfloss. Ein großer Mann wie Wenzel bekam hier bereits Schwierigkeiten, aufrecht zu stehen. Das größte Problem aber war, dass es nur ein oder zwei Leute gab, die in der Vielzahl von Abzweigungen und Zuflüssen die richtigen Gänge kannten, um an der Nordwand unterhalb der Burggrafenburg jenseits der Mauern ins Freie zu gelangen. Der bucklige Asriel war einer von ihnen. Er, Wenzel und Luzinde hatten in den letzten beiden Nächten kein Auge zugetan, um so viele Juden wie möglich in kleinen Gruppen aus der Stadt zu schmuggeln. Dabei hatte sich herausgestellt, wie lange ein Marsch durch die Gänge dauerte.
Jetzt, in der dritten Nacht, warteten Luzinde und Wenzel im Eingang des Hauses. Der Morgen dämmerte, und Ulrich und
Ulman Stromer mussten festgestellt haben, dass die Wagen vor dem Laufer Tor nur mit Holz und Stroh gefüllt waren. Aus der Stadt drang jetzt Kampfeslärm. Vermutlich suchte man sie im Judenviertel. Über kurz oder lang würde eine Gruppe von Flüchtlingen aufgebracht werden und diesen Ort verraten. Noch in den Morgenstunden zu fliehen, das konnte nicht lange gutgehen. Doch die Nächte hatten für die Menge an Menschen nicht ausgereicht.
»Sollte Asriel nicht längst zurück sein?« Der krumme kleine Mann kannte die Lochkanalisation wie seinen Handrücken. Er hatte Wenzel und Luzinde den richtigen Weg gezeigt, um die Leute herauszubringen.
»Möglich«, brummte Wenzel. »Der wird sich schon nicht verirren.«
Sie schwiegen und warteten. Doch Luzinde hielt es nicht lange aus. »Wann kommen sie denn endlich!«
»Wenn die Dominikaner zur Terz läuten«, erwiderte er gereizt.
Luzinde sah ihn schräg von der Seite an. Dem Ritter war die Anstrengung der letzten Tage ebenso anzusehen wie vermutlich ihr selbst. Als er ihren Blick bemerkte, fuhr er sich mit den Händen über das Gesicht. »Entschuldige. Ich bin müde.«
Sie nickte. »Ich auch.« Sie stierte in die Dunkelheit. »Ich hätte nicht gedacht, dass Nathans Zeitplan aufgeht. Dass sich so viele Leute daran halten, nach dem Geläut die Sanduhren zu zählen. Es ist schon ein Wunder, dass sich alle gedulden können, bis sie an der Reihe sind.«
»Sie wissen, was auf dem Spiel steht. Aber du hast Recht – es ist ein Wunder, dass noch niemand erwischt worden ist.«
Luzinde war so ungeduldig, weil jetzt endlich Rebekka, Rosa, Mose und die Kinder unter den Flüchtlingen waren. Eigentlich hatte Luzinde sie als Erste hinausbringen wollen, doch die Familie
hatte sich geweigert. »Des fellt zu ser auf«, hatte Mose gesagt.Vermutlich stimmte das sogar – Hosto Stromer brauchte dafür nicht einmal Spitzel, denn er konnte in Moses Innenhof sehen.
Jetzt zuckte Luzinde zusammen, als
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