Die Lichtermagd
sich.Wenzel kehrte schließlich als Letzter zurück. »Drei Gruppen auf einmal«, grunzte er. »Ich habe gewusst, dass das mit
den Sanduhren nicht klappt. Sie sind alle unterschiedlich groß und laufen unterschiedlich schnell. Wenn da nur nicht noch mehr schiefgeht!«
»Hat sie jemand gesehen?«, fragte Luzinde.
»Ich weiß es nicht. Soll ich sie durchführen?«
»Nein. Es ist besser, wenn ich das mache. Wenn jemand auf uns aufmerksam geworden ist, wäre es besser, wenn du hier bliebest«, erwiderte Luzinde und griff sich die Öllaterne, die an einer Kette hing. Sie wandte sich an die Menschen, die eng zusammengedrängt im Bierkeller standen. Es waren über zwanzig – viele Frauen mit Kindern und Alte darunter.
»Wir müssen hintereinander gehen. Wir haben leider nicht genug Laternen für alle. Aber der Letzte«, sie wies auf Mose, »sollte eine bei sich haben. Die Kinder müssen nicht getragen werden. Sie haben weniger Schwierigkeiten in den engen Gängen als wir.« Dann blickte sie die Leute ernst an. »Niemand – hört ihr? – niemand trennt sich von der Gruppe. Ich kenne dort unten auch nur den einen Weg nach draußen. Ich kann euch nicht wiederfinden, wenn ihr euch verlauft. Daher binden wir uns alle an eine Leine. Besonders die Kinder. Außerdem müssen wir mucksmäuschenstill sein. Die Gänge führen an manchem Keller vorbei.Wenn jemand gerade Bier holt und uns hört oder sieht, sind wir geliefert – und alle nach uns ebenfalls. Habt ihr das verstanden?« Die Leute nickten ängstlich. »Wenn jemand fällt, kann ich nicht umdrehen und ihm aufhelfen. Daher sollten sich Kinder und Erwachsene abwechseln. Jeder ist für die Leute vor und hinter sich verantwortlich. Entweder wir schaffen es alle da durch – oder keiner.«
Luzinde band den Flüchtlingen sorgfältig die Leine an den Gürtel und verteilte drei Laternen. Das war zu wenig, damit alle sehen konnten, wohin sie ihre Füße setzten, doch mehr besaßen sie nicht. Viele der Kinder würden sich im Stockfinsteren
ihren Weg suchen müssen. Und wenn jemand stolperte und fiel, möglicherweise gar schrie …
»Alles wird gut«, beruhigte sie Jakob und Bel, die sich ängstlich an ihre Mutter drängten.
»Luzinde.« Wenzel hielt sie zurück.
»Ich passe auf mich auf«, lächelte sie mutig.
»Gut. Und noch was.« Er drückte ihr einen Knüppel in die Hand. »Niemand darf euch erwischen.«
Sie sah auf die Waffe herunter und schluckte. Wie sollte sie damit gegen einen ausgewachsenen Mann ankommen?
»Ziele auf den Kopf, den Bauch, die Augen, den Schritt. Je mehr Schwung, desto härter der Schlag. Je später dich der Gegner sieht, desto besser.«
Luzinde nickte. Dann drückte sie seine Hand zum Abschied und ging die steilen Stufen voran in die Tiefe. Zum etlichsten Male umfing sie vollständige Dunkelheit. Die Welt verengte sich auf die Lichtkugel um die hölzerne Laterne, deren Schein kaum den Boden vor ihren Füßen erreichte. Sie wartete geduldig, bis alle unten waren, dann ging sie los und spürte schnell den Zug des Strickes an ihrem Gürtel. Sie fühlte sich sicherer mit dem Strick, denn teilweise waren die Gänge so eng, dass man den Hintermann seines Hintermannes schon nicht mehr sehen konnte.
Die ersten paar Abbiegungen waren leicht. Dann musste sie sich konzentrieren und Gänge zählen. Sie ging langsamer als sonst, denn je mehr Leute am Seil hingen, desto länger musste man warten, bis jeder um die schwierigen Stellen herum war. Es würde ein langer und anstrengender Marsch werden.
Hinter ihr hörte sie einen erstickten Schmerzensschrei. »Was war das?«, fragte sie nach hinten. Bel, die hinter ihr ging, zuckte mit den Schultern. »Woher sol ich des wissen?«
»Gib’s weiter!«, bat Luzinde.
»Ah.« Bel tat wie ihr geheißen.
Luzinde kam es so vor, als bräuchte die Antwort Stunden. »Zulezt links«, rezitierte Bel was ihr weitergetragen worden war.
Luzinde blinzelte verständnislos. »Was?«
Doch Bel zuckte nur mit den Achseln. »Des het mir der Kleine als Antwort weitergegeben.«
Luzinde beschloss weiterzugehen.Vermutlich war beim Weitertragen der Frage schon nicht das angekommen, was sie hatte wissen wollen. Und wer weiß, wer sich angesprochen gefühlt und geantwortet hatte.
Die Abzweigungen rechts und links wirkten auf die junge Frau wie aufgerissene Schlünde. Jedes Mal, wenn sie in einen hineinblickte, wurde ihr ein wenig schwindelig – als ginge ein Sog davon aus. Sie wendete den Blick von dem dunklen Gang vor ihr ab und
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