Die Lichtermagd
Menschen.«
Doch Luzinde lehnte sich erschüttert an den Türrahmen. Sie wandte die Augen ab. Kaum zu glauben, dass solche Geschehnisse Wenzels tägliches Einerlei darstellten. Die Leichtigkeit, mit der er die beiden Männer getötet hatte, hinterließ einen tiefen Schrecken bei ihr. Sie brauchte einige Augenblicke, um sich wieder in den Griff zu bekommen. »Die Welt ist voller gieriger Menschen«, murmelte sie.
»Komm«, sprach Wenzel und reichte ihr die Hand. Luzinde zögerte. Dann griff sie zu. »Ja. Zum Kloster.«
Sie machten sich auf denWeg zum Stadttor. Die Wachen dort hatten zwar strikte Befehle, keine Fremden oder Juden durchzulassen, doch sie hatten der Autorität eines königlichen Ritters nicht viel entgegenzusetzen. Bis zum Klarissenkonvent war es nicht weit.
Romer lief der blutrünstigen Meute hinterher. Sie wollten tiefer ins Judenviertel, wo nicht alles ausgeräumt und versteckt worden war. Der kalte Tag wurde immer lichter, die mittägliche Sonne spiegelte sich schließlich auf den mit Schnee bedeckten Kirchdächern und verwandelte die sonst so düstere Stadt Nürnberg in einen Hort des Lichts. Sankt Nikolaus verhieß ein noch schönerer Tag zu werden.
Doch Romer und die Seinen hatten kein Auge für die Schönheit. Auf halbem Weg sahen sie Rauch aufsteigen. »Verdammt! Welcher Narr hat denn die Häuser angezündet?«, brüllte der Schneider. Wenn das auf andere Häuser übersprang, läge bald die ganze Stadt in Schutt und Asche. Plötzlich erkannte er in der Menge Caspar den Krämer. »Caspar!«, rief Romer erfreut.
»Romer!«, rief Caspar zurück. »Die Juden haben sich bewaffnet!«
Der Blick des Schneiders folgte dem ausgestreckten Finger des Krämers. Dort vorne fanden sich Juden mit blinkenden
Schwertern und Glefen, die sich den Angreifern in den Weg stellten.Vermutlich wollten sie die Judenschule verteidigen, die hinter ihnen lag. Allen voran kämpfte Nathan der Wucherer mit seinen Knechten und hieb einem Mann gerade den Arm ab.
»Verdammt!« Romers anfängliche Wut und Empörung verwandelten sich in Angst. Reflexartig sprang er in den nächsten Hauseingang, der ihn nur ungenügend verbarg. Er hoffte, sie wären weit genug weg vom Geschehen. Er musste nachdenken!
Doch er war unfähig, seinen Blick von der Szene abzuwenden. Die Männer, die er flüchtig von Treffen in Bierkellern und Kirchhöfen kannte, die er selbst dazu gebracht hatte, zu sehen, was für eine Plage die Juden in Nürnberg waren – diese Männer stürzten den Juden in einem Pulk entgegen,Waffen schwingend und mit gebleckten Zähnen.Viele Schläge trafen ihr Ziel, doch der Schneider sah manche seiner Kumpanen stürzen, denn die Juden kämpften mit dem Mut der Verzweiflung. Doch was geschähe, wenn die Juden an ihnen vorbeikämen? Was, wenn sie ihn erreichten? So berauscht der Schneider auch von seinem jüngst errungenen Triumph war, umso mehr staunte er darüber, dass die Männer einfach weiterliefen, den Schwertern der Verteidiger entgegen, während er hier kauerte und sich nicht bewegen konnte.
Dann sah Romer die Gerüsteten. Die waren offenbar dabei, sich durch das ganze Judenviertel hindurch zu kämpfen und wussten noch nichts von dem Gemetzel hier. Der Schneider sprang geduckt vor und lief zur Ecke. »Die Judenschul!«, rief er aus vollem Hals. »Die Judenschul! Dort haben sie all ihr Gold hingebracht! Die Judenschul! Da ist ihr Gold!« Er schrie so lange, bis der Söldnerhaufen ihn hörte. Die Männer in den Rüstungen sammelten sich, wechselten Worte. Dann näherten sie sich im Pulk, und Romer machte, dass er in sein Versteck
zurückkam. Doch vorher zog er Caspar mit sich. »Lass die man machen!«, zischte er ihm zu.
»Aber Gold – in der Judenschule? Woher willst du das den wissen?«, stieß Caspar hervor.
»Ich weiß es nicht, Mann!«, sprach Romer. »Aber wenn jemand gegen die Juden ankommt, dann die Söldner dort! Schau nur zu!«
Die Söldner rannten in einer schiefen und krummen Reihe auf die Verteidiger zu. Ihre Gesichter waren zu grimmigen Grimassen verzogen, die Kleider voll Blut und Dreck, und sie brüllten ihre Gegner an, als wollten sie sie bei lebendigem Leibe auffressen. Die beiden Zuschauer zuckten zusammen, als die Gegner aufeinanderprallten.
Caspar musste wegen der Heftigkeit der Gewalt blinzeln. Unter der klaren Mittagssonne verwandelten sich die Straßen von Nürnberg nun wahrhaftig in ein Schlachtfeld. Nathan und seine Leute hatten sich gut gegen die Handwerker geschlagen. Offenbar
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