Die Lichtermagd
möglich, dass so etwas wirklich geschieht? Dass jemand – dein Oheim – so dreist ist, alle Juden Nürnbergs zu vertreiben? Direkt unter den Augen des Königs?«
Ulman wand sich unverkennbar unter dieser Frage. »Ich halte meinen Oheim für einen entschlossenen und skrupellosen Mann.«
»Dann sollte ich Gottschalk davon berichten«, entschied Luzinde.
»Du hast ihm noch nichts davon gesagt?« Ulman schien hellhörig zu werden.
»Nein«, entgegnete sie zögernd. »Ich – ich wusste wirklich nicht, was ich tun soll. Ich wollte keine Pferde scheumachen, wenn nichts dabei sein sollte.«
Ulman rieb sich nachdenklich das Kinn. »Vielleicht ist es besser so. Möglicherweise kann ich bei meinem Onkel herausfinden, was es mit den Dingen auf sich hat, von denen du gehört hast. Bevor man andere Leute mit hineinzieht. Vielleicht hast du etwas missverstanden.«
Luzinde glaubte nicht daran; die Worte Hosto Stromers waren ziemlich eindeutig gewesen. Doch seine Worte gaben ihr ein wenig Hoffnung. »Würdest du das tun? Ohne das dein Onkel sofort erfährt, dass ich etwas weiß?«
Ulman schenkte ihr einen sorgenvollen Blick. »Ich würde meinem Onkel um nichts in der Welt von dir berichten. Hosto Stromer ist gut darin, Dinge zu zerstören.Von Schönheit weiß er nichts.« Jetzt wurde Ulman rot. »Es tut mir leid. Das ist mir so rausgerutscht.«
Luzinde war sprachlos. Er wagte es für sie, sich gegen seinen Oheim zu stellen. Er stellte sich schützend vor sie, damit ihr nichts geschah. Sie trat an Ulman heran, legte die Hände auf seine Wangen und sah ihm in die Augen. »Das sollte dir nicht leidtun«, erwiderte sie. Dann küsste sie ihn.
In einem langen Augenblick begegneten sich ihre Lippen. Er erwiderte ihren Kuss sanft. Sie fühlte sich ihm so nah. Dann trat Ulman zurück. »Luzinde, ich – das geht doch nicht.«
Sie schmeckte seine Wärme noch auf ihrer Haut. »Geht nicht? Warum nicht?«
»Ich weiß nicht, wie das bei euch üblich ist, aber bei uns entehrt man eine Frau, wenn man sich ihr unsittlich nähert.«
Luzinde lächelte verschmitzt. »Aber ich habe mich doch dir genähert.«
»Ja«, erwiderte Ulman, »schon. Aber... das ändert nichts.«
»Magst du mich nicht?«
»Nein, das ist es nicht – im Gegenteil.«
»Aber du respektierst mich doch?«
»Natürlich«, betonte Ulman im Brustton der Überzeugung.
»Siehst du. Und ich entscheide mich für dich. Das Risiko ist doch meines.«
Darauf wusste er keine Antwort.
»Ulman«, sprach Luzinde, jetzt wieder ernst, »ich möchte mit dir zusammen sein. Heute Nacht. Mehr Ansprüche stelle ich gar nicht.« Sie wusste, dass sie das nicht tun sollte. Sie brach damit ihr Versprechen gegen Gottschalk, sein Haus nicht zu besudeln, und handelte gegen jegliche christliche Tugend. Kümmerte sie das? Sie hatte sich so viele Jahre ihres Lebens hinter Klostermauern gesperrt. Sie wollte nicht neue, unsichtbare Hürden aufrichten. Durch Ulman wagte sie wieder zu träumen, dass nichts unmöglich war.
»Und was ist Morgen?«, fragte er leise. Seine Augen wirkten im letzten Abendlicht noch dunkler als sonst.
Sie standen einander jetzt wieder so nahe, dass Luzinde meinte, seinen Herzschlag spüren zu können. Dies war der Augenblick, in dem sie sich umwenden und weggehen konnte. Luzinde zuckte mit den Schultern. »Wen kümmert’s?« Dann legte sie eine Hand auf seine Brust, dort wo Wams und Hemd sich öffneten.
Es war, als hätte diese Berührung eine Brücke zwischen ihm
und ihr geschlagen und sämtliche Zweifel beseitigt. Er legte seine Hand auf ihre Wange und ließ die andere durch ihr Haar fahren. »So weich«, murmelte er. Dann zog er sie heran, und seine Lippen berührten erst ihr Haar, dann ihr Ohr. Luzinde erschauerte unter dem warmen Atem und ließ ihn gewähren. Schließlich drehte sie den Kopf und stellte sich auf die Zehenspitzen. Ihre weichen Lippen fanden seine, erst vorsichtig, nachspürend, schließlich forscher, dann begierig, bis sie sich aneinander schmiegten und mit den Händen den Körper des anderen erkundeten.
Dann nahm sie seine Hand, legte sie auf ihr schnell schlagendes Herz neben dem Luzienamulett und zog ihn rückwärts zu der Sitzbank in der Fensternische. Sie wollte ihn spüren; seine Hände auf ihrer Haut, seine Bartstoppeln auf ihrer Wange, seine weichen Lippen auf ihrer Brust. Endlich fiel ein Schatten von Luzinde ab, den sie zuvor nie wahrgenommen hatte. Es war, als berührten die Strahlen der Sonne zum ersten Mal seit Jahren wieder ihre
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