Die Lichtermagd
Asche und Staub. Luzinde drückte die Nase an die Bleiglasfenster, doch sie sah nur verzerrte Formen und Farben. Vermutlich konnte man tagsüber bei geöffneten Fenstern wunderbar weit übers Land blicken.
»Glaubt Ihr an Schicksal?«, fragte sie unvermittelt.
»Schicksal?« Ulman zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Im Sinne von unveränderbarem Schicksal? Ich denke nicht. Mein Oheim sagt, jeder Mensch formt sein Schicksal selbst. Man trifft eine Entscheidung und handelt demgemäß. Mehr ist das Schicksal nicht.«
»Das heißt, alles ist nur Zufall?«Wenn Luzinde dem Glauben schenkte, wäre sie versehentlich Zeugin der Verschwörung in der Kirche geworden. Und es war Zufall, dass sie mit Ulman jemanden kannte, der Hosto Stromers Neffe war.War es dann Leichtsinn von ihr, sich ihm anzuvertrauen? Sie wusste es nicht.
Er geleitete sie weiter, in den oberen Saal, in dem dicke Holzbalken die dunkle Decke stützten. An der jenseitigen kurzen Wand führten zwei, drei Stufen durch ein mit Malereien von Heiligen geschmücktes Portal. »In die Kaiserkapelle hinein«, wie Ulman ihr erläuterte.
Der Saal wirkte genau so, wie sie König Karl an jenem Tag vor knapp fünf Wochen bei seinem Einzug in die Stadt wahrgenommen hatte: kalt und förmlich. Nur an der Fensterseite boten
Sitznischen, die in die breite Mauer eingearbeitet waren, einen behaglichen Platz mit Ausblick. Luzinde öffnete eines der kleinen Fenster mit den Butzenglasscheiben. Sie fröstelte, denn die hereinwehende Brise war kühl. Sie sah nach Süden, über die sich auf die Nacht vorbereitende Stadt. Die Schlote rauchten, und hier und da wurde bereits so manches Licht gelöscht. Nürnberg wirkte ganz friedlich. Eine plötzliche Sorge erfasste Luzinde. Der Frieden der Stadt stand auf dem Spiel. Sie musste jemandem vertrauen.
»Ich habe etwas gehört«, sprach sie noch zum Fenster gewandt. »Ich habe gehört, wie jemand davon sprach, die Juden vertreiben zu wollen.«
»Die Juden?«, wiederholte Ulman. »Aus Nürnberg?«
Luzinde nickte bloß.
»Aber warum sollte jemand das tun? Die Juden bringen viel Geld in die Stadt.«
»Weil der König Kaiser werden will. Und weil Nürnberg ihm dafür viel bieten kann. Aber nur, wenn es einen Marktplatz hat«, berichtete Luzinde. Sie wandte sich um und meinte, auf Ulmans Gesicht eine gewisse Betretenheit zu erkennen. »Euch kommen diese Argumente nicht fremd vor, nicht wahr?«
Der junge Mann senkte den Blick und zögerte. »Nein«, bekannte er dann.
Sie presste die Lippen aufeinander. Dann flüsterte sie: »Ich glaube, einer der Männer war Euer Oheim.«
»Woher wisst Ihr das alles?«, fragte Ulman mit rauer Stimme.
»Ich habe es gehört«, wiederholte Luzinde. »Aus seinem eigenen Munde. Euer Oheim … er sprach sogar von Gewalt.«
Ulman schwieg. Er trat nun selbst zum Fenster, so dass Luzinde ihn nur im Profil sah. War es ein Fehler gewesen, sich ihm anzuvertrauen? Jetzt, da sie diese Dinge aussprach, nahm sie erst wahr, wie grässlich das alles klang. Wie würde sie
sich fühlen, wenn man das einem Mitglied ihrer Familie vorwürfe?
»Ulman?« Sie trat näher und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ich wollte Euch nicht zu nahe treten. Ich -«
»Was willst du von mir?«, fragte Ulman beinahe grob. »Was soll ich dazu sagen?«
»Ich -«, begann Luzinde und wollte ihm erklären, dass sie gar nichts von ihm wollte. Doch er unterbrach sie noch einmal: »Ich bin nicht mein Onkel!« Es klang beinahe verzweifelt.
»Das weiß ich«, entgegnete sie schnell. »Ich wollte Euch gar nichts vorwerfen. Ich … ich wollte das nur mit Euch bereden. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und da dachte ich, ich frage jemanden, der sich auskennt, der nicht der einen oder anderen Seite angehört. Ich vertraue doch nur Euch, Herr.«
»Nenn mich nicht Herr, Luzinde«, sprach Ulman leise. Er drehte sich um und stand nun direkt vor ihr. Die Nähe kam so plötzlich, dass Luzinde die Hand von seiner Schulter nahm. Es fühlte sich an, als habe sie sich verbrannt.
»Wie soll ich Euch dann nennen?«, fragte sie. Sie bemerkte selbst, wie kokett ihre Worte klangen.
»Da fällt mir vieles ein«, gab er zurück und senkte den Blick. »Ulman zum Beispiel. Und du. Fürs Erste.«
»Wie Ihr meint – du. Ulman.« Luzinde stieg die Röte in den Kopf. Es kam selten vor, dass sie nicht wusste, was sie sagen sollte.
»Was wirst du nun tun, Luzinde?«, kehrte Ulman zu ihrer Frage zurück.
»Ich weiß nicht. Haltet – hälst – du es für
Weitere Kostenlose Bücher