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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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selbst anstachelte, sie befeuerte, wie menschliches Mitgefühl dumpfem Hass und Abgestumpftheit wich, gegen die er sich nicht wehren könne. Betroffen machte Burr auch der Brief seines ehemaligen Studenten Sidney Walcott, der mit dem nächsten Transport nach Europa sollte und dessen Bruder Stuart gerade in Frankreich gefallen war. Er schrieb ihm:

    »Lieber Professor Burr,
    vom Roten Kreuz in Deutschland haben wir die Nachricht erhalten. Ich kann es nicht glauben. Nur meine Eltern und meine Frau liebte ich mehr als meinen Bruder! Er war mein Kleiner, mein ganzes Leben lang! Ich sträube mich zu glauben, dass die grausamen Berichte von drüben wahr sind – doch weiß ich es! Ich würde am liebsten meinen Dienst quittieren, sofort! Ich muss Ihnen das sagen – ich weiß nicht, warum.
    Vielleicht nur wegen der Verehrung für Sie und des Vertrauens, das ich zu Ihnen habe. Auch weiß ich, dass Sie meine Trauer teilen und mich verstehen! Es schmerzt so sehr, dass ich mich schwach und ganz verzagt fühle. Aber bitte behalten Sie meine Schwäche für sich. Dem Rest der Welt möchte ich als tapferer Mann erscheinen. 11. Januar 1918.«

    Wie vielen tausend und abertausend anderen erging es nicht ebenso wie Sidney Walcott, die ihre Haut auf das Schlachtfeld tragen sollten und sich hinter ihrem Männlichkeitsgehabe verstecken mussten, um nicht als Waschlappen verachtet zu werden?
    George Lincoln krampfte sich jedes Mal das Herz zusammen, wenn er einer Familie, einer Mutter, einem Vater, Geschwistern oder Kindern die Nachricht vom Tod ihres Sohnes, Bruders oder Vaters überbringen musste. Es war eine Aufgabe, um die alle einen großen Bogen schlugen, aber genau das war auch der Grund gewesen, weshalb er sich freiwillig zur Verfügung gestellt hatte. Zudem war er Vorsitzender des Roten Kreuzes von Ithaca. An die hundert Familien wurden finanziell unterstützt, über zweihundert erhielten Zuwendungen in Form von Lebensmitteln und Bekleidung.
    Die Bevölkerung auf dem Land brachte allem, was nur annähernd nach Beamtentum oder Regierung roch, ein tiefes Misstrauen entgegen, das es erst einmal zu überwinden galt.
    Burr konnte den Zorn und den Unmut der Leute verstehen, wenn fest zugesagte Gelder oder Lieferungen erst Wochen später oder überhaupt nicht eintrafen. Wo die Not am größten war, half er mit eigenem Geld, doch das war natürlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Deshalb hatte er einen Schnellsiedekurs zum Notar absolviert, um bei den zuständigen Behörden mit seinem Titel mehr Eindruck zu machen. Anwälte und Notare – mit denen legte man sich nur ungern an, das gab meistens Ärger!

    Ratternd fraß sich das Ford T-Modell, allgemein nur »Tin Lizzy« genannt, über die holprige Landstraße irgendwo in Tompkins County. George Upton, Burrs Neffe, saß am Steuer und hatte es längst aufgegeben, sich zu erkundigen, wo sie sich überhaupt befanden, ebenso wie die beiden jungen Herren auf dem Rücksitz. Ihnen blieb nichts anderes übrig, als sich auf Burr zu verlassen, der versicherte, er sei mit Professor Gage als Chauffeur schon oft mit dem Auto hier gewesen und kenne die Gegend auch von seinen Wanderungen her. Sie waren ihm ausgeliefert, allein hätten sie niemals zurück nach Ithaca gefunden.
    »Nach links!«, stieß George Lincoln seinen Neffen an und deutete nach vorn, nachdem er vergeblich versucht hatte, das Klappern der Karosserie, das knatternde Husten des Motors und das Rauschen des Fahrtwinds zu übertönen. Mit voller Kraft trat der Fahrer auf das rechte Pedal, aber außer einem schaurig metallischen Krächzen von der Hinterachse her geschah daraufhin wenig. Das Automobil schoss mit kaum verminderter Geschwindigkeit vorwärts, die Abzweigung kam näher und näher. George suchte aufgeregt nach dem kleinen Hebel unter dem Holzlenkrad, nahm etwas Gas zurück, wartete, bis sich die Drehzahl des Motors etwas gesenkt hatte, trat auf das für das Getriebe zuständige linke Pedal, während sein rechter Fuß immer noch mehr oder weniger einflusslos versuchte, dem Vorwärtsdrang des Gefährtes mit der Bremse Einhalt zu gebieten. Mit einem harten Ruck griff endlich die Kupplung und die Insassen wurden nach vorn gestoßen, während Upton das Lenkrad herumriss und gerade noch die Einfahrt in den schmalen Feldweg erwischte. Holpernd sprangen die Vollgummireifen über die Steine in den ausgewaschenen Spurrinnen, zunehmend steilte sich der Karrenweg auf, während Upton sein linkes Ohr motorwärts richtete, um mögliche,

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