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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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wer berichtete schon von dem unermesslichen Leid in den Gefängnissen und den Grausamkeiten – außer Pfarrer Stappert und der »Cautio criminalis«? Was wussten die Majestäten, die Fürsten, Prinzen, Durchlauchten, Herzöge, Freiherren, Beamten, Doktoren, Rechtsgelehrten, Wundärzte, Mediziner, der Papst in Rom, Kardinäle, Theologen, Pfarrer, Bürgermeister, Stadträte oder Schulmeister von diesem Treiben, Peinigen, Foltern und Brennen? Doch nur das, was diese Mordgesellen,
    Zauberrichter und Menschenschinder in ihren geschönten Protokollen nach außen dringen ließen oder schönredeten. Er aber hatte beide Seiten miterlebt, war an Todesurteilen beteiligt gewesen und selbst Opfer geworden. Über vierzig Jahre hatte er mit sich gerungen, ob er sein Wissen darüber mit ins Grab nehmen sollte. Nun aber war da ein Satz, der ihn in der Notwendigkeit seines Tuns bestätigte. Bei Heidelberg, so las er, hatten sie gerade wieder eine Menge Leute als Zauberer und Hexen hingerichtet. Zum Schluss des Berichts hieß es:
    »Gott der Herr bewahre alle Untertanen vor einer solchen Obrigkeit!«
    Unten öffnete sich die Haustür. Löher vernahm zwei, drei Schritte, dann war es still.
    »Hermann, was stinkt hier so?«, drang die Stimme seiner Frau nach oben.
    »Lass mich in Ruhe!«, knurrte er. »Das Buch ist wichtiger als dein blöder Topf!«

    37

    Für George Lincoln war die Kriegserklärung nicht unerwartet gekommen, obwohl er bis zuletzt auf eine friedliche Einflussnahme seines Landes auf die Streitparteien gehofft hatte. Bereits im Sommer 1915 hatte er sich freiwillig zu einem militärischen Training gemeldet und war dann mit Hunderten von anderen auf dem Campus in etwas
    herumgelaufen, was er eigentlich verabscheute, nämlich in einer Uniform! Es war nicht sein Krieg, aber er konnte nicht abseits stehen. Es gab eine Zeit der persönlichen Freiheit, aber nun war eine Zeit der Unterordnung. Die Nachricht vom Tod seines Freundes Gregory ergriff ihn auf eigentümliche Weise, die dem Brief seiner Witwe Lucy beigelegte Todesanzeige berührte sein Herz und erfüllte ihn mit tiefem Stolz, einen solchen Menschen zum Freund gehabt zu haben.
    »Statt besonderer Meldung« , stand da. »Caspar Rene Gregory, Professor an der Universität Leipzig, ist im Kampf für die deutsche Sache am 9. April 1917 gefallen. Seine Familie soll keine Trauerkleidung tragen, soll nicht trauern, sondern sich freuen, dass er in Gott ruht. Beileidsbesuche werden dankend abgelehnt. Er lässt allen Freunden und Bekannten Lebewohl und auf Wiedersehen sagen. «
    Ergänzend war angefügt: »Diese Anzeige, mit Ausnahme der Angaben über Zeit und Umstände des Todes, hat er selbst am 27. August 1912 geschrieben.«
    Nun hatte Gregory als ältester Kriegsfreiwilliger des deutschen Heeres siebzigjährig sein Leben gelassen.
    Er erinnerte sich noch in allen Einzelheiten an den lauen Sommerabend vor Gregorys kleinem Häuschen bei Leipzig, als dieser seine Brieftasche geöffnet und ihm eine Abschrift des Entwurfs gezeigt hatte. Von Athen kommend war Burr damals nach Brüssel gereist, hatte unterwegs noch einige Stiche und Drucke über die Hexenvorstellung um die Jahrhundertwende erworben. Gregory hatte sich in jenen Tagen auf eine gefährliche Reise nach Kaukasien vorbereitet, war auf der Spur einer Großschrift, die von dem halbheidnischen und wilden Volk der Swaneten abergläubisch verehrt wurde.
    Für die Front war George Lincoln zu klein, zu alt und – er gestand es sich selbst ein – nicht in Form. So schwirrte er nun als Corporal in der 4. Infanterie-Kompanie D herum, war dort allerdings mehr Seelentröster, Psychiater, Psychologe und Vaterersatz für eine Schar blutjunger Männer, die vielfach noch halbe Knaben waren. Einer wollte nach Ende des Krieges zum Studium nach Cornell, ein anderer unbedingt zur Marine, wieder einem anderen verhalf er zu einer Ausbildung als Ingenieur. Dann kamen die Briefe von seinen Jungs und Studenten. Sie kamen aus Frankreich, berichteten anfangs noch begeistert von den rot gedeckten Dächern der Häuser in Bordeaux, von der schönen Stadt Paris, später wurden sie immer einsilbiger, wortkarger und düsterer. Sie erzählten von Weizenfeldern vor dunklen Wäldern, in denen sich das Korn mit dem Blut der Kameraden in roten Kreisen färbte, von Kartoffelkäfern auf den Äckern, von zerschossenen Häusern, schlammigen Schützengräben und Toten, Toten, Toten. Einer schrieb ihm verschreckt, wie die Barbarei des Feindes die Barbarei in ihm

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