Die Liebe atmen lassen
Regenzeiten und Dürreperioden überstanden sind.
In verschiedener Hinsicht ist die sexuelle Erfahrung zwiespältig in sich selbst, und die ästhetische Ethik der Liebe muss darauf antworten können: Sex ist eine Wunschmaschine , die immer neue Wünsche generiert und bei deren Erfüllung Ekstase produziert, eine über die Maßen faszinierende Erfahrung, eine Verschwendung seiner selbst, eine Befreiung vom Ich, ein Verschmelzen mit dem Anderen, eine rauschhafte Aufhebung jeglicher Distanz, die sich so sehr vom gewöhnlichen Leben abhebt, dass die Liebenden sie wieder und wieder haben wollen. Fraglos tun sie gut daran, so weit wie nur möglich wechselseitig auf ihre Wünsche einzugehen und Träume und Phantasien zu verwirklichen: Mit den daraus hervorgehenden diversen , verschiedenartigen, und perversen , im Vergleich zum Gewöhnlichen andersartigen Erfahrungen, überschreiten sie die alltägliche Wirklichkeit und tasten sich vor ins unbegrenzte Reich der Sinne. Zum Ort des ontologischen Übergangs zwischen Wirklichkeit und Möglichkeiten, zur Kultstätte der dafür erforderlichen rituellen Handlungen wird in erster Linie das Bett , dichterisch gesehen ein Altar der reinen Poesie: Davon träumen jedenfalls Romantiker, die daher endlos im Bett bleiben wollen. Aber die »alltägliche Ekstase«, die sie zu realisieren versuchen, stößt an Grenzen: Ekstase kann nie Alltag sein. Sie lebt davon, irregulär zu sein; sie zu einer regulären Erfahrung machen zu wollen, ist sinnlos. Sie ist die Ausnahme vom Alltag, der die Regel ist, die die Ausnahme erst ermöglicht: Die ekstatischen Wünsche und Sehnsüchte brauchen den Alltag, um erneut an Intensität gewinnen zu können.
Hinzu kommen so rauschhafte wie schmerzliche Erfahrungen der Macht. Sex ist auch eine Machtmaschine , und diesin mehrfachem Sinne: Schon die Wunscherfüllung ist mit der Erfahrung von Macht verwoben, sobald einem der Beteiligten bewusst wird, dass der Andere zur Befriedigung seiner Bedürfnisse auf ihn angewiesen ist. Auch die freie Unterwerfung unter die Machtausübung des Anderen kann als rauschhaft erlebt werden, aber das Problem ist, dass die Machtausübung selten auf Sex begrenzt bleibt, dass vielmehr, was im Bett geschieht, auch die Beziehung außerhalb beeinflusst: »Du meinst wohl, weil zwischen uns sexuell was läuft, kannst du dich benehmen wie’n Arsch«, sagt im heißen Berliner Sommer in ortstypischer Unverblümtheit Nike zu Ronald ( Sommer vorm Balkon , Filmkomödie, Regie Andreas Dresen, Deutschland 2005). Zum Grund einer großen Beunruhigung wird erst recht die Tatsache, dass die Machtausübung alle Grenzen sprengen und zur Nötigung, Erpressung, Bestrafung, Vergewaltigung führen kann; dass Sex ferner die Macht ist, das eigene Leben wie das des Anderen einer folgenreichen Ansteckung oder tödlichen Gefährdung auszusetzen, wenn auf Vorsicht und Schutz verzichtet wird. Aus den Augen verloren wird oft auch die mögliche Macht über ein neues Leben, das aus diesem einzigen Akt hervorgehen kann, mit machtvollen Rückwirkungen auf das Leben der werdenden Eltern. All das gelangt zu Bewusstsein, wenn der Rausch der Poesie faszinierender Möglichkeiten verflogen ist und der kalte Boden der Prosa einer banalen Wirklichkeit wieder betreten wird. Der schmerzlichen Polarität von Möglichkeit und Wirklichkeit entgehen die Liebenden schon auf der körperlichen Ebene nicht.
Die Eigendynamik der Wünsche und der Macht ist der Grund dafür, dass Sex von einem Moment zum anderen eine Beziehung völlig verändern kann: Auf Wünsche folgenEnttäuschungen, Macht verleitet zum Missbrauch. Für den Versuch, diese Dynamik abzuschwächen, steht den Liebenden die Macht der Besinnung als Element der Ethik zur Verfügung. Denn es gibt nicht nur die Option Eros , dem Begehren Folge zu leisten, sobald es nach Gefolgschaft verlangt, mit allen Konsequenzen, die zweifellos schöne, aber auch tragische Geschichten hervorbringen, wie die Dichter sie lieben. Offen steht vielmehr auch die Option Logos , die Besinnung als Gegenmacht zu Eros, wie Platon sie schon zu etablieren versuchte, der die Besinnung selbst als eine Art von Eros begriff, erotisch auf einer anderen, abstrakteren Ebene. Diese Option ermöglicht neben der Fähigkeit zur Ekstase auch die zur Askese , die Einübung einer Distanz zum Begehren, die eine individuelle und kulturelle Leistung ersten Ranges ist, um nicht ständig den Trieben folgen zu müssen, die immer neue Wünsche hervortreiben, stattdessen
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