Die Liebe atmen lassen
nicht ausdrücklich, sondern verschwiegen geschieht, der jeweils Andere »wird es dann schon bemerken«. Verschiedene Optionen stehen dafür zur Verfügung, Übergänge zwischen ihnen sind jederzeit möglich: Die offene Option ist in der leidenschaftlichen Liebe beheimatet und besteht darin, sich wechselseitig nach Belieben gewähren zu lassen, wann, wo und wie auch immer. Die situative Option entspricht eher der freundschaftlichen Liebe, in der es die Liebenden auf passende Gelegenheiten ankommen lassen und sie auch arrangieren, grundsätzlich bereit, sich wechselseitig einen Gefallen zu tun. Die Option der freien Verpflichtung fällt in der kooperativen Liebe leicht: Die Partner sind zur Erfüllung »ehelicher Pflichten« bereit, auch in nichtehelichen Verhältnissen; nicht aus Gründen der Tradition, Konvention oder Religion, sondern aufgrund eigener Wahl, eine »horizontale Kooperation« der besonderen Art.
Die kontraktive Option der funktionalen Liebe beruht auf der ernsthaften Sorge der Beteiligten um ihre Körperfunktionen; daher ihr Interesse an einer offenen oder stillen vertraglichen Regelung hinsichtlich Zeit, Ort, Modus und Frequenz, um es »sich besorgen zu lassen«, auf die Gefahr hin, sich wechselseitig als fuck buddies benutzt zu fühlen. Die streitbare Option einer agonalen Liebe trachtet danach, die geballten Aggressionen im sexuellen Vollzug aufzulösen, mit einer Art von »vertikaler Impulsübertragung«, womit in der Meteorologie in schönster Meteopoetik ein bestimmtes Wettergeschehen bezeichnet wird. Die verschlossene Option ist typisch für die ausschließendeBeziehung, auch innerhalb einer Beziehung, um den Anderen abzuweisen, generell oder zeitweilig, mit welcher Begründung auch immer (Kopfschmerzen, zu viel Arbeit). Die Option der Abstraktion steht der virtuellen Beziehung zur Verfügung und ermöglicht Cybersex, der allerdings hohe Anforderungen an die Vorstellungskraft der Beteiligten stellt und nicht immer sehr befriedigend ausfällt.
Kommt das Geschehen in Gang, ist die Abfolge immer dieselbe: »Der Blick – (die Rede) – die Händeberührung – der Kuss – die Busenberührung – der Grif an die Geschlechtstheile – der Act der Umarmung« (Novalis, Über die Liebe , Sammelband, 2001, 84). Mit dem Beginn des Akts setzen sich dann die Differenzen fort, die natürlich bedingt sein mögen, aber kulturell und individuell variabel sind: So mancher Mann braucht keine Aufwärmphase, so manche Frau wünscht sich eine ausgiebige; Männer streben eher zügig dem Höhepunkt zu, Frauen brauchen eher Zeit. Die zeitliche Streckung lockt mit einem Gewinn an Sinn, denn sie ermöglicht, die integrale sinnliche Erfahrung länger auszukosten, die in der sexuellen Begegnung so umfassend zu haben ist wie kaum irgendwo sonst: Sämtliche Sinne des Sehens, Hörens, Riechens, Schmeckens, Tastens, Bewegens und In-sich-Spürens werden in anschwellender Intensität aktiv und machen den Akt zum Gesamtkunstwerk.
Was im gewöhnlichen Leben kaum möglich ist, wird jetzt Wirklichkeit: Die Inkarnation , die Fleischwerdung im wörtlichen Sinne, um ganz und gar triumphierendes, »griffiges« Fleisch füreinander zu sein. Was unter anderen Bedingungen Ekel erregen würde, treibt jetzt Erregung hervor: Die innige Begegnung von Schleimhäuten, deren Aufgabe es gewöhnlich ist, Eindringlinge schon an den Körperöffnungen abzuwehren. Jetzt ist es möglich, in feuchte Höhlungen vorzudringenund Körpersäfte auszutauschen, sie wechselseitig zu fühlen, zu schmecken und mit den eigenen zu vermengen (um genaue Beschreibungen nicht verlegen: Charlotte Roche, Feuchtgebiete , 2008; Michael Kleeberg, Karlmann , 2007). Und doch kehren die Differenzen zurück, wenn der Höhepunkt naht: Vaginaler Sex beschert Männern meist auch den erlösenden Moment, Frauen hingegen bedürfen eher der klitoralen Stimulation, die zu den Kunstfertigkeiten des guten Liebhabers gehört, manuell oder per Cunnilingus (von lateinisch cunnus , Scham, und lingua , Zunge): Das ist der »Traum der Meerjungfrau«, vom japanischen Maler Katsushika Hokusai in einem Farbholzschnitt von 1814 hinreißend dargestellt (Gian Carlo Calza, Hokusai , 2006). Und zu guter Letzt kommt der Duft erneut ins Spiel: Mithilfe von Riechrezeptoren, die den Maiglöckchenduft der Eizellen aufspüren, finden die Spermien ihren Weg (Hanns Hatt und Regine Dee, Das Maiglöckchen-Phänomen , 2008).
Nicht jeder Akt muss eine Offenbarung sein, er kann auch eine Kommunikation mit
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