Die Liebe atmen lassen
anderen Mitteln sein, eine Art von Aufmerksamkeit, eine Möglichkeit, die ungeteilte Aufmerksamkeit des Anderen zu erlangen, ein Kunstgriff zum Abbau von Spannungen. Ärger in der Beziehung verschwindet von selbst, denn »wenn der Körper mitspricht, wird oft der heftigste Streit durch eine einzige eheliche Umarmung wieder geschlichtet«, wusste schon Adolph Freiherr Knigge ( Über den Umgang mit Menschen , 1796, II, 3, 2). Sex bestärkt das Gefühl der Bindung und hilft, auf »Tuchfühlung« zu bleiben durch die Intimität miteinander: »So blieben sie. Ineinander verschachtelt. Verankert. Miteinander verschweißt durch seinen Penis in ihr. Und ruhig und selbstgewiss, mit der seltsamen Vorahnung, dass sie sich aufeinander verlassen konnten« (Véronique Olmi, Ein Mann eine Frau , 2005, 51). Den psychischenWirkungen entsprechen messbare physiologische Vorgänge: Die wohlige Nähe und Vertrautheit geht mit einer Ausschüttung der Hormone Prolaktin und Oxytocin einher; Endorphine bauen Stress ab und hellen die Stimmung auf: In der Entspannung liegt eine Bedeutung der üppig befeuchteten Liaison zwischen zweien. Guter Sex macht schöne Menschen, mit mehr Gelassenheit und Heiterkeit, weniger Ängstlichkeit und Niedergeschlagenheit.
Eine Flut von Serotonin ermöglicht endlich viele neue und überraschende Verknüpfungen zwischen den Neuronen des Gehirns, und all die Probleme des Denkens lösen sich auf, denen durch Grübeln nicht beizukommen war: Sex macht einen klaren Kopf und ist eine Quelle von Kreativität ohnegleichen. Gerade dann ist er von Bedeutung, wenn es nicht passt, wenn keine Zeit und kein Platz dafür da ist: »Ich habe den Kopf so voll«, aber der volle Kopf beansprucht zu viel Blut, für die Schwellkörper bleibt zu wenig übrig; ihnen ihr Recht zu gewähren, ist wiederum von Vorteil für den Kopf, der sich erholen und Inspiration gewinnen kann, während sich die vernachlässigten Teile des Körpers in unverhoffter Aufmerksamkeit sonnen. Und Sex ist der Gesundheit förderlich: Die Anfälligkeit für Herz- und Kreislauferkrankungen nimmt ab, der Level der Antikörper Immunoglobulin A wird angehoben, verbessert den Schutz gegen Infektionen und unterstützt eine Wundheilung. Das ausgeschüttete Östrogen regt die Regenerationsfähigkeit der Zellen an, sodass die Haut länger straff und elastisch bleibt.
Bleiben nur noch die Differenzen danach , die so problematisch sein können wie die davor . Dass er vielleicht nicht mehr kuscheln, nicht mehr reden, nur noch schlafen will, ist eine Folge körperlicher Entkräftung: Während der weiblicheTestosteronspiegel ansteigt, stürzt der männliche jetzt ab, die Kontraktionsfähigkeit der Muskeln schwindet rapide, für das Nachspiel sind die Glieder nun oft zu schwer. Die Nacktheit nach dem Akt ist eine andere als die davor: Was eben noch prall war, schrumpft in sich zusammen, was eben noch paradiesisch duftete, riecht nicht mehr gut. Die Refraktär - oder auch Erholungsphase geht mit einer hormonellen Blockade einher, bevor das Spiel der Hormone von Neuem beginnen kann. Dass Männer sich gerade dann wegdrehen, wenn Frauen mehr Nähe spüren wollen, kann aber noch andere Gründe haben: Manche Männer werfen sich im Stillen vor, dass sie »sich gehen ließen«, sich von Emotionen »übermannen ließen« und erst wieder mit sich »klarkommen müssen«. Zurück bleiben Frauen, die »die Männer« nicht verstehen, sich missbraucht und verletzt fühlen, womöglich sich noch zum Vorwurf machen, sich auf das Spiel überhaupt eingelassen zu haben.
Auf die Feier der Oberfläche der Haut und des Fleisches folgt das Bewusstsein der Abgründigkeit des menschlichen Lebens, die Melancholie: Darum ist nach dem Beischlaf angeblich »jedes Tier«, vor allem aber das Tier Mensch »traurig«. Und je weniger die Beteiligten miteinander vertraut sind, je mehr ihre Begegnung allein eine körperliche war, desto hastiger gehen sie nun auseinander. Eine scheinbar grundlose Scham überwältigt sie, und manch einer versucht beim Weggehen den Anderen noch mit Arroganz, Verachtung und Spott zu beschämen, um die unangenehme Last der Scham nicht alleine tragen zu müssen. Die auf das Spiel der Hormone reduzierte Liebe ist episodisch und wird nicht epochal: Schicksal so mancher »Sommerliebe«, die sich einer Aufwallung des Hypothalamus verdankt, des Zentrums der Hormonproduktion, das im Sommer intensiver arbeitet als im Winter. WahreLiebe ist wohl das, was übrig bleibt, wenn die hormonellen
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