Die Liebe atmen lassen
ausschließen zu können.
Naturgegebene Voraussetzungen sind bei der körperlichen Kunst des Liebens im Spiel, die nicht so ohne Weiteres zu ändern sind, teilweise verankert im ältesten Teil des Gehirns, dem »Reptiliengehirn«, das Herzfrequenz und Blutkreislauf, Atmung und Gesichtsausdruck steuert und auf Schlüsselreize reagiert, zu gegebener Zeit die Wangen rötet, den Blutdruck erhöht, den Herzschlag beschleunigt, den Atem stoßweise gehen lässt. Die Chemie der Liebe (Helen Fisher, Warum wir lieben , 2004) kann interessante Hinweise auf die molekularen Grundlagen des Geschehens geben und beispielsweise zeigen, wieDuftmoleküle von Pheromonen anfänglich und zyklisch wiederkehrend dafür sorgen, einen Anderen »gut riechen zu können«: Die olfaktorische Attraktion, die von ihm ausgeht und eine Art von »Pheromonfalle« darstellt, enthält Informationen über sein Immunsystem und signalisiert, ob ein potenzieller Nachwuchs mit einem potenzierten Immunsystem ausgestattet werden würde. Die Moleküle von Hormonen wiederum, die als Botenstoffe Signale zwischen Hirnzellen vermitteln, regulieren das Bedürfnis nach Annäherung, und sei es durch ihr Fehlen: Ein Mangel an Serotonin hemmt die Bewegung des Denkens, sodass der Betroffene nur noch an das Eine denken kann, nervös und depressiv wird (»zu Tode betrübt«); Neurosen, Psychosen und Depressionen, die dieselben Symptome aufweisen, werden mit Serotoningaben behandelt, hier aber hilft nur die Suche nach dem Anderen. Besteht Aussicht darauf, ihm näher zu kommen, auch innerhalb einer Beziehung stets von Neuem, steht dem sinkenden Serotoninspiegel alsbald eine Zunahme der Hormone Dopamin und Noradrenalin gegenüber: Sie erzeugen ein Gefühl von Euphorie mit kokainähnlicher Wirkung (»himmelhoch jauchzend«), zaubern im Vorfeld der möglichen intimen Begegnung Schmelz in die Stimme, malen Pastellfarben in die Augen und kleiden die Haut in Samt und Seide. All das geschieht ganz von selbst: Wo Hormone wirksam sind, muss man nicht nach Gründen fragen.
Naturgegeben, jedoch auch kulturell beeinflusst und mit individuellen Anteilen ausgestattet, die von Natur und Kultur abweichen und auf sie zurückwirken können, sind die Differenzen des Begehrens . Dieser heftigsten Form der Zuwendung und Zuneigung frönen beide Geschlechter gerne, aber auf unterschiedliche Weise und nicht unbedingt zur selben Zeit:»Seine Intimität ist nicht ihre Intimität« (Rosmarie Welter-Enderlin, Paare – Leidenschaft und lange Weile. Frauen und Männer in Zeiten des Übergangs , 1992, 257). Lange konnten religiöse und traditionelle Rollenzuweisungen, denen zufolge Frauen sich dem Begehren von Männern zu fügen hatten, die Differenzen überdecken, aber mit der Befreiung davon liegen sie offen zutage und sind nur noch mit einem wechselseitigen großen Wohlwollen zu überbrücken. Frauen scheinen im Begehren eher eine Art von Spiel zu sehen, auf das sie sich gerne einlassen, wenn sie »in Stimmung« sind; sie bevorzugen eine »Erotik des offenen Ausgangs« (Eva Menasse, Lässliche Todsünden , 2009, 82). Männer erfahren ihr Begehren eher als eine Notwendigkeit , sie haben einen »Druck abzubauen« und können nicht so ohne Weiteres darauf verzichten. Frauen wollen vielleicht in einem Gespräch erst erkunden, ob ihre Gefühle und Gedanken mit dem Anderen zusammenstimmen, bevor sie sich ihm auch körperlich anvertrauen. Männer verstehen das allzu leicht als willentliches Hinhalten, das nur vom Wesentlichen abhält: Im Verlauf einer langen Geschichte haben sie sich eher darauf kapriziert, sich zu nehmen, wonach es sie gelüstet, um sich ihrer Macht und Potenz zu vergewissern, während Frauen sich im Verlauf der Geschichte ihrer Unterwerfung eher daran gewöhnen mussten, warten zu können – eine Rolle, von der sie sich mit ihrer Befreiung zu verabschieden beginnen. Diese Unterschiede zu kennen, ist die Voraussetzung dafür, auf sie eingehen zu können und sich an Kompromissen zu versuchen, bevor die Komplikationen im fortgeschrittenen Stadium der Befreiung von überkommenen Rollen überhand nehmen, sodass sie will, dass er will, er aber gelernt hat, nicht selbst zu wollen, sondern auf ihr Wollen zu achten, obwohl sie das jetzt gerade nicht will …
Für den Anfang und dann immer wieder von Neuem müssen die Beteiligten eine Wahl treffen, jede und jeder für sich, auch in gleichgeschlechtlichen Beziehungen, ob und wie intime Begegnungen ermöglicht werden können: Eine Wahl, die oft
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