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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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damit leben zu lernen, dass nicht alle Wünsche jederzeit wahr werden können, schon weil der Andere womöglich andere Wünsche hat und, wie das Selbst, nicht zur bloßen Wunscherfüllungsmaschine degradiert werden will. Askese ist eine Einübung in die Zurückhaltung und Enthaltung, um mit Selbstmächtigkeit die Machtausübung über den Anderen und auch eventuelle Machtzumutungen durch ihn einzudämmen.
    Jeder Einzelne kann sich einerseits bemühen, zum Experten der Ekstase zu werden, der das Begehren und seine Folgeerscheinungen so attraktiv zu gestalten versteht, dass auch der Andere sein Bedürfnis danach immer wieder neu entdeckt. Und er kann sich andererseits um eine Aneignung der Askese bemühen, um bei aller Dringlichkeit des Begehrens mit einer zumindest zeitweiligen Zurückhaltung und Enthaltung, einer temporären und ohnehin nur symbolischenSelbst-Abälardisierung einen Spielraum der Freiheit zu gewinnen, der im Gegenzug auch dem Anderen mehr Freiraum verschafft. Ohne Erwartungsdruck kann der Andere nun darauf warten, dass sein eigenes Begehren sich bemerkbar macht; und wenn seine Bedürfnisse so ernst genommen werden, ist er auch eher bereit, seinerseits dem Selbst wieder entgegenzukommen. Die Askese ermöglicht zudem, die Unlust zu überbrücken, die natürliche Auszeit der Lüste, in der sie sich erholen, sofern sie nicht unentwegt zur Wiederholung gezwungen werden, die ihre Intensität von Mal zu Mal abschwächt. Mit asketischer Hilfe wird die zeitweilige Distanz zueinander erträglich, in der die Anregung und Erregung neue Kraft schöpft: Askese ist die Vorbereitung zur Ekstase, und je länger die asketische Selbstbegrenzung durchgehalten wird, desto heftiger fällt die ekstatische Entgrenzung aus. Daher kann es nicht um eine ständige »Überschreitung« und »Verschwendung« gehen, wie die Transgression Georges Batailles von vielen verstanden wurde. Die auf Dauer gestellte Transgression erbringt nicht die erhoffte Libertinage, sondern unterliegt derselben Regel wie die permanente Revolution: Sie kostet viel Kraft und endet in allgemeiner Erschöpfung.
    Lebbar wird die Liebe mit der Atmung zwischen Ekstase und Askese , zwischen willfähriger Lüsternheit und willentlicher Keuschheit, um zwischen den Extremen einer Dominanz des Eros , die jeden Logos auslöscht, und einer Dominanz des Logos , die jeden Eros vernichtet, einen gangbaren Weg zu finden. Die Dosierung von Ekstase und Askese ist aber unter Bedingungen der Freiheit keine Frage der äußeren Normsetzung mehr, sondern der inneren Formgebung . Die Ekstase, oft als »einzig wahres Leben« angesehen, wird wieder zu einer Möglichkeit unter anderen, und die Aufmerksamkeit richtet sich darauf,die in ihr verbrannten Kräfte zurückzugewinnen. Sex selbst ist dann keine Norm mehr, sondern eine Option , und dazu gehört eben auch der gelegentliche Verzicht, denn es gibt ein Leben auch ohne Sex. Mit der Lockerung der Bindung an das Begehren können andere Ebenen der Beziehung sich besser entfalten, die auch dann noch zur Verfügung stehen, wenn die körperliche Ebene zeitweilig oder dauerhaft Einbußen erleidet. Die Einübung der Fähigkeit zum Verzicht kommt überdies dem Leben abseits des Bettes zustatten, um nicht immer jeder Möglichkeit nachjagen zu müssen, sich nicht in zu vielen nur halb realisierten Möglichkeiten zu verzetteln oder ganz im Meer all dessen unterzugehen, was sonst noch möglich wäre. Unverzichtbar ist der Verzicht nicht aus moralischen Gründen, sondern aus Gründen der Lebbarkeit: Die Konzentration auf die Realisierung weniger Möglichkeiten oder einer einzigen intensiviert das Leben und verhindert seine Zerstreuung in Beliebigkeit. Sich Grenzen zu setzen, ermöglicht dem Selbst, seine wichtigsten Anliegen zu bewahren und äußerstenfalls damit zurechtzukommen, dass es keine Möglichkeiten gibt, falls sich das als unabänderlich erweist.
    Das gekonnte Spiel mit Ekstase und Askese, Verschwendung und Zurückhaltung, inniger Hingabe und ironischer Distanz, Eindeutigkeit und Andeutung, realer Begegnung und virtueller Phantasie zeichnet die Kunst der Erotik aus, die Kunst der Anregung und Erregung. Es hat keinen Sinn, sie gegen Sex auszuspielen, denn sie bereitet ihn vor und begleitet ihn, aber sie ist auch noch da, wenn er vorbei ist. Dass viele Dinge, Verhältnisse und vor allem Menschen für sexy gehalten werden können, verdankt sich den Anklängen an die sexuelle Erregung; selbst dann schöpft die Erotik daraus noch ihre

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