Die Liebe atmen lassen
Intensität, wenn es ihr an sexuellen Bezügen mangelt. Unddie zahlreichen erotischen Erfahrungen zwischen zweien sorgen für eine Fülle von Sinn auch ohne Sex: Den Anderen zu sehen, und sei es nur von ferne; ihn zu hören, und sei es nur am Telefon; ihn zu betasten, und sei es nur mit einer flüchtigen Berührung; ihn zu schmecken, und sei es nur bei einem Kuss im Vorübergehen; ihn zu riechen, und sei es in einem zurückgelassenen Kleidungsstück; sich gemeinsam mit ihm zu bewegen, auch ohne jede wirkliche Berührung; ihn in sich und im ganzen Körper zu spüren, auch ohne jede körperliche Präsenz. Sogar über das Sinnliche hinaus wird die Erotik zum bewussten Wahrnehmen und Genießen von Zusammenhängen, von Sinn auf allen Ebenen, in der Beziehung des Selbst zu sich und zu Anderen, zum Leben und zur Welt überhaupt.
Im Rahmen der nicht mehr nur sexuellen, sondern erotischen Lebenskunst kann Sex dann das werden, was er am besten kann: Ein Divertimento , das zum Kunstwerk des Lebens gehört und dem gleichnamigen musikalischen Kunstwerk ähnelt, mehrsätzig, mit heiterem, tänzerischem Charakter. Mit geduldiger Übung (griechisch askesis ), dieser Asketik im Wortsinne, sind die Künste zu erlernen und die Gewohnheiten und Rituale einzurichten, die die Inszenierung erleichtern. Alle Arten von Mood-Management , von Kleidung und Verkleidung tragen dazu bei, ein erotisches Ambiente zu schaffen; vor allem geistlastige Männer gelüstet es sehr nach diesem Gegenpol: »Schmücke Deinen Körper für mich, Liebste«, bittet James Joyce seine spätere Frau Nora Barnacle ( Briefe an Nora , 22. August 1909). »Es kommt gewiss nicht bloß auf das Äußere einer Frau an«, spottet der Wiener Kritiker Karl Kraus: »Auch die Dessous sind wichtig« ( Sprüche und Widersprüche , 1909, 18).
Die Sprache der körperlichen Liebe muss nicht immer den Ansprüchen politischer Korrektheit genügen, der intimeUmgang miteinander kann in jeder Hinsicht »extraordinär« ausfallen. Anregend und erregend wirkt die Darstellung des Obszönen, die Pornographie , in mehr oder weniger anspruchsvollen Bildern und Filmen, vor allem aber in Werken der Literatur, etwa in einigen vergessenen Texten Mark Twains, bei Anaïs Nin und Henry Miller, Charles Bukowski und Erica Jong, Cathérine Millet und vielen Anderen. Sollten die Liebenden nicht zueinander finden, kann es darum gehen, »Sexualassistenz« in allen Spielarten in Anspruch zu nehmen, unter der Voraussetzung einer bewussten Wahl der Beteiligten und ohne jede Nötigung. Zur Dienstleistung im Rahmen einer erotischen Lebenskunst avanciert die Prostitution , die auf ihre Weise noch über die körperliche Ebene hinausgehen kann: Nackter und unmittelbarer als Therapeuten, Ärzte und Seelsorger sind Prostituierte mit den Niederungen und Abgründen menschlicher und vor allem männlicher Existenz konfrontiert; die Sexarbeit wird selbst dann zur Seelenmassage, wenn sie gar nicht darauf ausgerichtet ist.
Um den verschiedenen Bedürfnissen nach einem Divertimento, einem vor-, inner-, außer- und nachehelichen Stelldichein ebenso wie einer professionellen Begegnung Raum zu geben, könnten Liebeshotels wie in Japan, Love Time Motels wie in Brasilien, Telos wie in Argentinien bereitstehen. Aber auch überall sonst lassen sich Orte dafür finden, wenn der Platz zu Hause zu knapp oder der Weg dorthin zu weit ist, oder wenn es einfach etwas zu feiern gibt, denn das ist Bestandteil der erotischen Lebenskunst: Gemeinsam Feste zu feiern, Ausnahmen vom Alltag, der nicht allein vorherrschen soll, Feste, in denen die Bejahung der Beziehung, des Lebens und der Welt zum Ereignis wird. Mit aller Zärtlichkeit und Heftigkeit lassen sich diese rosaroten Stunden der Beziehung genießen, undsollten die Feierlichkeiten zu heftig ausfallen, sorgen freiwerdende Endorphine mit euphorischen Zuständen für schmerzstillende Wirkung.
Die Einübung gymnastischer Fähigkeiten für solche Stunden kann sinnvoll sein, und doch geht das Spiel der Liebe nicht in Stellungsspielen im Bett auf: Das führt eine Lektüre des einschlägig bekannten Kamasutra aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. vor Augen, das eben nicht nur ein Sexhandbuch für junge Leute aus wohlsituierten Familien im antiken Nordindien und modernen Nordwesten des Planeten ist, sondern auch eine Anleitung zur Einfühlung in den Anderen. Der sinnliche Genuss ( Kama ), in Versform ( Sutra ) besungen, lässt sich steigern durch den seelischen und geistigen Austausch; er ist
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