Die Liebe atmen lassen
Seele einen Bezug zur Zeit desKörpers zu haben, aber nicht daran gebunden zu sein. Sollte die Deutung zutreffen, dass die Seele Energie ist, dann unterliegt sie keinem Alterungsprozess; aus diesem Grund kann sie sich jung fühlen in einem älter werdenden Körper und es einem Menschen sehr schwer machen, mit dem Älterwerden einverstanden zu sein. Alles spricht dafür, dass die Seele sogar unsterblich ist, denn Energie stirbt nicht, nichts davon geht jemals verloren, sterblich ist nur ihre Ausformung im Wirklichen, Körperlichen. Abseits ihrer individuellen Ausprägung in Einzelseelen hat sie wohl nichts Individuelles an sich, der Grund der Seele ist vielmehr vorstellbar als unendlicher Raum, als »ein unendlich Umgreifendes« (Karl Jaspers, Allgemeine Psychopathologie , 1946, Einführung), erfüllt von einer unerschöpflichen Energie ohne Ich, und in manchen Momenten spüren Menschen das auch, fühlen sich fremd in ihrer Haut, fehl am Platz in einer befremdlichen Umgebung.
Mit einem beseelenden Quantum an Energie scheint die Natur jedes Individuum auszustatten, ein weiteres Quantum steuert die kulturelle und soziale Umgebung bei, ein entscheidendes Quantum erarbeitet es sich selbst, am wirksamsten gemeinsam mit Anderen. Vor allem die Erfahrung der Liebe , auch schon die Sehnsucht danach, aktiviert die Energien der Seele; das dürfte der Grund dafür sein, warum so vielen Menschen ein Leben ohne Liebe nicht lebenswert erscheint, trotz aller Schwierigkeiten, die sie mit sich bringt: Die Liebe ist das Lebenselixier schlechthin, denn sie ermöglicht, eine atemberaubende Weite der Seele zu erfahren, abhängig allein davon, die Seelen füreinander zu öffnen und damit über weit mehr als nur die eigene Energie zu verfügen. Menschen lieben, um sich mit Energie aufzuladen; sie strömen förmlich über von Energie, sobald sie zu lieben beginnen, und sie fühlen sich »selig«dabei. Setzt die Liebe aus, fühlen sie sich »wie gelähmt«, verzweifeln über eine schreckliche Leere und verlieren sich im Nichts.
Wie sehr die Liebe eine energetische Frage ist, zeigt sich am Beispiel der Aufmerksamkeit füreinander, die aus guten Gründen ein Element der Hingabe ist: Mit einer Zuwendung von Energie führt sie zur Bestärkung der Liebe, die das Leben leicht macht, mit einer Abwendung zu einer Entbehrung, die das Leben schwer macht. Mit der Zuwendung wächst das Gefühl der Wertschätzung auf beiden Seiten, mit Gleichgültigkeit und Abwendung aber das Gefühl der Geringschätzung. Wird die Energie der Aufmerksamkeit auch nur kurzzeitig abgezogen, beginnt der, dem sie entgeht, schon an der Liebe zu zweifeln, nicht etwa nur in einer zerbrechlichen Beziehung: »Du liebst mich nicht mehr!« Die damit verbundene Irritation ist nicht so ohne Weiteres zu bewältigen, denn zu viel steht auf dem Spiel: Energie ist Leben, ihr Entzug stellt das Leben in Frage. In der Entbehrung zeigt sich ihre Bedeutung: Entsteht ein energetischer Engpass, leiden die Gefühle an Bewegungsarmut und die Kräfte erschöpfen sich, sodass der Betroffene sich rasch »ausgebrannt« fühlt.
Zeitlebens bewachen Menschen daher eifersüchtig ihre Energiefelder und versuchen neue zu erschließen. Auch in der Beziehung der Liebe kommt es zum Versuch, die Aufmerksamkeit des Anderen notfalls mit Macht auf sich zu ziehen, ihm gewaltsam die Energie zu entreißen, die er nicht freiwillig preisgibt, und einen regelrechten Krieg um Energie zu führen. Ein schnelles Ende findet jeder Krieg eigentlich durch Kooperation, die die Konfrontation ablöst, aber nicht jeder ist dazu in der Lage und nicht zu jeder Zeit. Die Suche nach Nähe, ja, der Kampf um Nähe lässt sich als elementaresBedürfnis nach Energie verstehen, ohne die sich das Leben sehr rasch erschöpft. Die bloße körperliche Nähe sagt dabei noch nichts darüber aus, ob die energetisch ungleich ergiebigere Begegnung der Seelen möglich ist: »Mein Körper wird bald eindringen in Deinen, oh könnte meine Seele es auch!«, seufzt James Joyce, der nachts in Dublin noch zum General Post Office eilt, um seine Geliebte wenigstens mit einem Brief auf dieser Ebene zu erreichen ( Briefe an Nora , 5. September 1909). Mit der erlangten Nähe kann der Seelenraum sich dann jedoch so sehr verengen, dass die Intensität unerträglich wird und die Seelen sich schmerzlich aneinander zu reiben beginnen: Daher die Angst vor Nähe als Zurückschrecken vor der Beengung, Besetzung und Verletzung der Seele durch den Anderen, die den
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