Die Liebe atmen lassen
miteinander widmen sie sich der gemeinsamen Deutung des Lebens und der Welt . Gemeinsam fragen sie nach Zusammenhängen, nach Sinn im tagtäglich neu aufgehäuften Sammelsurium des Lebens aus Zufällen,Notwendigkeiten, Begegnungen, Erfahrungen, Freuden, Ärgernissen, Ideen, Phantasien. Erneut kommt es dabei zunächst auf eine Kenntnis von Leben und Welt an, auf ein möglichst umfangreiches Sammeln von Informationen und einen Gewinn von praktischem und theoretischem Wissen über alles Mögliche und Wirkliche. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Perspektiven haben zwei Menschen weit mehr Zugang zu Informationen und Wissen als einer für sich allein. Wechselseitig können sie sich aus diesem Pool bedienen und eine umfassende Sicht gewinnen, sowohl was das alltägliche Leben als auch die Gesamtheit des Lebens angeht, vor Ort, in der Region, im Land, in aller Welt, sozial, kulturell, geschichtlich, wissenschaftlich, wirtschaftlich, politisch.
Bei der bloßen Kenntnis der Bedingungen und Möglichkeiten, in deren Rahmen beide sich bewegen, bleibt es dabei nicht, erforderlich ist auch eine Definition von Leben und Welt , in der sie sich längerfristig einrichten können, umgetrieben von Fragen wie: Was geschieht gegenwärtig? Was sind die Hintergründe dazu? Wohin steuert das alles? Was bedeutet das für unser Leben? Ist irgendwelcher Sinn erkennbar in all den kleinen und großen Geschichten? Eine beliebte Antwort darauf ist die Rede von einer irritierenden oder gar feindseligen Welt, gegen die sich die gemeinsame Existenz zu behaupten hat. So kommt es zum stummen Rückzug auf die Bewältigung des alltäglichen Lebens, was immer sich darum herum abspielt. Zum Ziel und Zweck des Lebens wird die eigene Liebe, die allein noch Sinn macht in einer Welt ohne Sinn. Aber auch andere Antworten sind möglich: Sehr viel Sinn können die Liebenden in den zahllosen Zusammenhängen des Lebens und der Welt finden, die sie mit ihren Erfahrungen, mit ihrem Denken und Deuten gemeinsam entdecken und von denen siesich immer von Neuem beseelen und begeistern lassen, um in der Fülle des Sinns zu schwelgen und sich in einen Reichtum von Zusammenhängen eingebettet zu sehen, der in der gelegentlichen Armut des Alltags leicht außer Blick geraten kann.
Wie schon die körperliche und seelische, kennt allerdings auch die geistige Ebene ein Problem des Wünschens , denn das Denken kann zu einem bloßen Wunschdenken, das Deuten zu reinen Wunschdeutungen führen. Vage machen sich Wünsche des Selbst für sich, für das Zusammensein mit dem Anderen, für Leben und Welt allgemein in Gefühlen bemerkbar und reifen allmählich zu Wunschbildern heran, bevor sie in sprachlichen Formulierungen greifbare Gestalt gewinnen. Wünsche eröffnen Möglichkeiten, das ist ihre ontologische Funktion; aber selbst der bescheidenste Wunsch scheitert daran, dass es keinen zwingenden ontologischen Übergang vom Denken und Deuten zur Wirklichkeit und zu einem wirklichen Tun gibt. Alles Mögliche lässt sich denken und deuten, aber nicht alles Mögliche wird auch wirklich. Selbst der schöne Gedanke »Wir sind ein Paar« bringt vielleicht nur den Wunsch zum Ausdruck, es möge wirklich so sein: Die Syntax fügt zusammen, was nicht unbedingt zusammengehört. Mit der sprachlichen Formulierung hoffen die Liebenden ihre Ängste um die Beziehung zu bannen, während es wichtiger wäre, ein paar Fragen zu beantworten: Was heißt »Wir« in Wirklichkeit? Was verbirgt sich hinter dem Begriff »Paar« im alltäglichen Vollzug? Die Versuchung ist groß, das Positive, das erwünscht ist, herbeizudenken, die Dinge und Verhältnisse schönzureden, das wirkliche Negative hingegen auszublenden, für das die Liebe in Gedanken sich nicht interessiert, solange sie sich selbst genügt. Ärger, Verstimmung, Verletzung, Unglücklichsein gibt es dennoch, in der Liebe wie auch außerhalb; stets istdas Leben bedroht von Krankheit, Leid und Tod, unergründlich abgründig bleibt die Welt.
Gedanken und Deutungen ermöglichen zudem einige Macht über die Wirklichkeit: Mit ihrer Hilfe sind Zusammenhänge aufzudecken und zu entzaubern, auch neu zu denken und zu verzaubern. Bestehende Verhältnisse lassen sich durchdenken, vergangene überdenken, künftige vorausbedenken, Schlüsse sind zu ziehen und Veränderungen zu entwerfen. Selbst auf den eigenen Körper kann das Denken Einfluss nehmen und seinen Bedürfnissen entsprechen oder sie zurückhalten, sie auch gänzlich missachten, auf die Gefahr hin, dass sie
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