Die Liebe atmen lassen
tiefsten zu berühren vermag.
Göttliche Erfahrung:
Die transzendente Kunst des Liebens
Schon auf der körperlichen, erst recht auf der seelischen und geistigen Ebene der Erfahrung zu zweit wird gelegentlich oder dauerhaft eine Dimension »darüber hinaus« spürbar: »Und wo zwei ineinander übergehen, da hebt sich die Grenze des Endlichen zwischen ihnen auf« (Bettine von Arnim, Die Sehnsucht hat allemal Recht , Sammelband, 2007, 61). Wie diese weitere Ebene genau beschrieben werden könnte, ist nicht klar, aber das Überschreiten ( transcendere im Lateinischen) des Gewöhnlichen, das dabei geschieht, hat der ungewöhnlichen Erfahrung der Transzendenz den Namen gegeben. Alle begrenzte, endliche Wirklichkeit bleibt zurück bei diesem Schritt ins Unbegrenzte, Unendliche, und über Chemie und Physik hinaus kommt eine Metaphysik der Liebe in den Blick. Auf der transzendenten Ebene besteht die Liebe darin, nur noch Liebe zu sein , und sie geht mit dem Gedanken und dem Gefühl einher, Höhen und Tiefen des Menschseins jetzt erst wirklichauszuschöpfen. Diese Erfahrung ist unverfügbar, sie kann nicht »gemacht« werden, sondern ergibt sich von selbst oder bleibt aus; nur die Bedingungen ihrer Möglichkeit lassen sich wieder und wieder bereitstellen. Plötzlich überkommt sie die Liebenden, während sie Liebe machen, fühlen, denken und deuten. Es ist unerheblich, ob die Erfahrung der Transzendenz nur eine Einbildung ist, erheblich ist allein, welche Auswirkung sie auf die Liebenden hat: Sich nicht mehr in das individuelle Dasein , an das die Einzelseelen gebunden sind, eingeschlossen zu fühlen, vielmehr ein umfassendes Sein wahrzunehmen, in das sie eigentlich eingebettet sind. Jede Festigkeit, die begrifflich zu fassen wäre, zerfließt bei der Empfindung reinen Seins in einem Meer von Energie, in dem die Ichs sich aufzulösen scheinen. Das Denken und Fühlen einer ontologischen Geborgenheit entsteht auf diese Weise.
Jede Begegnung mit einem Anderen, bei der mit einer Äußerung die Grenzen des Selbst überschritten werden, hält eine minimale transzendente Erfahrung bereit. Zwischen den Liebenden aber sind alle Grade der Steigerung möglich, sodass sich sagen lässt, Liebe ist Transzendenz , in verschiedener Hinsicht: Gemeinsam mit dem Anderen verfüge ich über weit mehr Energie und Möglichkeiten als für mich allein, sodass geradezu alles möglich erscheint. Gemeinsam mit ihm lebe ich mehr als mein eigenes Leben und kann durch ihn hindurch die Dimension der Unendlichkeit erahnen: Die Endlichkeit, der er unterworfen ist, ist nicht dieselbe wie meine eigene. In den Armen des Anderen bin ich dem Tod entzogen, selbst dann, wenn ich sterbe; sie umfangen mich über den Tod hinaus, und wenn nicht mehr körperlich, dann noch seelisch und geistig. Diese Potenzierung des Lebens ins Unendliche verdanke ich dem Anderen, und um sie geht es in der »unendlichen Ideeder Liebe«, die schon den Romantiker Novalis zu exaltierten Hymnen hinriss: Die Liebe sei das Eine, auf das alles zusteuert, das »Unum des Universums«; die Geliebte sei die fassbare Gestalt des Einen, die »Abbreviatur des Universums« ( Über die Liebe , Sammelband, 2001, 61). Mit größerer Nüchternheit kann sich auch die pragmatische Romantik, die sich in der Endlichkeit einzurichten versteht, auf ihre Weise zur Unendlichkeit hin öffnen, indem sie Endlichkeit und Unendlichkeit, Wirklichkeit und Möglichkeit als Elemente der Polarität begreift, die sich in allem zeigt.
Handelt es sich um eine Religiosität , wenn davon die Rede ist? Hat die Liebe etwas mit Religion zu tun? Jedenfalls wurde selbst für die Verächter aller Religion die Liebe in moderner Zeit zur säkularen religiösen Erfahrung, zuweilen auch zur einzigen Sinngebung des Lebens, wenn die Vergötterung der Liebe an die Stelle des Gottes der Liebe trat. Dass die Liebe zur Religion werden kann, wirft die Frage auf, was denn unter Religion zu verstehen ist. Das lateinische religo , »ich binde zurück«, spricht vom Rückbezug auf etwas, von der Bindung eines Menschen an etwas, das nicht irgendetwas ist, sondern etwas, das als wesentlich erscheint. Was das sein könnte, ist eine Frage der Deutung , deren Resultate in einer institutionalisierten Religion in Dogmen festgehalten werden; immer aber geht es um das, was mutmaßlich über die Grenzen der menschlichen Existenz, über ihre Wirklichkeit und Endlichkeit hinausgeht. Dieses Hinausgehen über Grenzen, die für Menschen in räumlicher und
Weitere Kostenlose Bücher