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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Was steuern zu können, ist eine Möglichkeit, die nicht verschenkt werden sollte. Entscheidend dafür ist die Aufmerksamkeit auf den Anderen: Rhetorik ist nicht die Kunst der Überredung und auch nicht primär die der Überzeugung, sondern die Kunst derAufmerksamkeit auf den, der angesprochen werden soll, sowie die Art des Sprechens , die auf ihn eingeht und ihm die Möglichkeit zuspielt, zu verstehen und seinerseits das Wort zu ergreifen. Dann wird es leichter, Gefühle und Gedanken auszutauschen, sich miteinander auseinanderzusetzen und Probleme gemeinsam anzugehen. Nicht Übereinstimmung, sondern Übereinkunft ist dabei das Ziel, kein Konsens, sondern ein Kompromiss, der gegensätzliche Positionen anerkennt und dennoch ein gemeinsames Tun und Lassen ermöglicht.
    Die Rhetorik als Kunst der Aufmerksamkeit und Art des Sprechens umfasst auch die Zurückhaltung , um nicht beliebig mit einem Anliegen herauszuplatzen, sondern aufgrund genauer Wahrnehmung des Anderen ein Gespür dafür zu entwickeln, was wann auf welche Weise angesprochen werden kann. »Miteinander reden« wird zwar als Lösung aller Probleme gefeiert, aber in Anlehnung an einen Satz Blaise Pascals, wonach alle Probleme der Welt daraus resultieren, dass die Menschen nicht in ihren Wohnungen bleiben, rühren viele Probleme auch daher, dass die Menschen nicht zur rechten Zeit ihren Mund halten können: Im Rausch des Sagens entschlüpfen Worte, die im nüchternen Zustand nie das Licht der Welt erblickt hätten. Daher ist auch das Schweigen ein Teil der Kunst des Redens. Welche Bedeutung ihm zuerkannt und welches Schweigen in welcher Situation eingesetzt wird, ist eine Frage der natürlichen Veranlagung und kulturellen Prägung, ebenso jedoch der individuellen Festlegung, um auf unterschiedliche Weisen zu schweigen: Entspannt und erfüllt, gespannt und geduldig, angespannt und erwartungsvoll, überspannt und feindselig.
    Verschiedene Gründe sprechen für eine willentliche Begrenzung des Redens: Der Impuls, der spricht, verliert mitseiner Äußerung an Intensität. Mit wachsender Detailverliebtheit und Differenziertheit des Sprechens schwindet die Euphorie, die alle Differenzen hinter sich lässt. Die Hoffnung, alle Aspekte einer Angelegenheit, alle Argumente für und gegen eine Auffassung unmittelbar im Moment mitteilen zu können, erfüllt sich nicht: Nicht alle Implikationen des Denkens und Sagens sind augenblicklich überschaubar, vieles fällt den Beteiligten »hinterher erst ein«, vieles lässt sich im Laufe der Zeit erst denken und sagen, wenn das Gedachte und Gesagte Erfahrungen verändert und neue Erfahrungen wiederum das Denken und Sagen verändern. Schweigen ist daher ein Element des Austauschs und der Auseinandersetzung, um sich noch einmal in Ruhe zu besinnen, und zuletzt ermöglicht eine Zeit des Schweigens auch, sich endlich dem Tun zuzuwenden, das wortreich angekündigt worden ist, während das endlose Reden womöglich dazu führt, nur »leere Worte« zu machen.
    Mit Blick auf die körperliche, seelische und geistige Ebene wird nun deutlicher, was Liebe ist, wenn sie diese Ebenen kennt: Sex, Gefühle und Gespräche – und deren zeitweiliges Aussetzen, willentlich und unwillentlich. Die Kunst besteht darin, selbst einzuschätzen und sich mit dem Anderen darüber zu verständigen, wann und in welchem Maße welche Ebene begehbar ist; erst im Laufe der Erfahrung und Besinnung wird es möglich, ein sicheres Gespür dafür zu entwickeln. In der Liebe weise zu werden heißt, immer besser zu erspüren, was an der Zeit ist, was wesentlich oder unwesentlich ist, wo ein Reden oder Schweigen, Tun oder Lassen am Platz ist, wo Nachsicht geübt werden kann und mit Widersprüchen gelebt werden muss. Die Weisheit wächst mit den unterschiedlichsten Erfahrungen, mit Höhen und Tiefen, Erfüllungen und Enttäuschungen, unspektakulärer Alltäglichkeit undspektakulären Herausforderungen, die bewältigt oder nicht bewältigt werden. Es fehlt an ihr in Zeiten der Verliebtheit, in der die überströmenden Energien irgendwelcher Weisheit nicht bedürfen. In Zeiten der reiferen Liebe aber, wenn die Liebenden in vielerlei Kämpfen energetische Überschüsse abgearbeitet haben, neigen sie ihr zu – und sind auf neue Weise in der Lage, bedingungslos zu lieben, ohne jede Unruhe darüber, wohin die Unbedingtheit sie tragen wird. Sowohl in der anfänglichen wie auch in der reiferen Liebe kann sich dabei die Erfahrung einer weiteren Ebene ergeben, die Menschen am

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