Die Liebe atmen lassen
»alles zu viel wird«.
Mit ihren Deutungen versuchen die Liebenden die Situation zu verstehen, in der sie sich befinden, und Möglichkeiten ausfindig zu machen, sofern eine Wirklichkeit oder die Beziehung selbst in eine Sackgasse geraten sein sollten. Steht kein Spielraum der Deutung mehr offen, verhärtet sich jede Wirklichkeit und die geistigen Quellen der Liebe versiegen.Aber die verhärtete Wirklichkeit weicht wieder auf, wenn mit neuen Deutungen attraktive Möglichkeiten sichtbar werden. Unterschiede in den Deutungen sind oft geschlechtlich konnotiert und persönlich motiviert, grundsätzlich aber tendieren Paare in allen Fragen zu gegensätzlichen Deutungen , wohl um dem Gesetz der Polarität Genüge zu tun. Im Vorfeld gemeinsamer Entscheidungen prallen sie aufeinander und werden zum Anlass, darüber zu streiten und sich bestenfalls an Kompromissen zu versuchen. Kaum je sind die Deutungen zur Deckung zu bringen, aber es ist hilfreich, sie zu kennen, um wechselseitig darauf eingehen zu können. Auf drei verschiedene Bereiche beziehen sich die Deutungen.
Zunächst steht die Deutung des individuellen Lebens in Frage, die Arbeit am persönlichen Sinn, an den inneren Zusammenhängen des Einzelnen selbst, eine Arbeit, die eigentlich ihm selbst obliegt, aber wirksamer und umsichtiger im Gespräch mit dem Anderen zu leisten ist. Wechselseitig hören die Liebenden sich zu und werden auf der Couch zum Coach füreinander: Die Präsenz des Anderen drängt mich zur Konzentration, seine Fragen fordern mich dazu heraus, Antworten zu formulieren, die ich für mich allein nicht so ohne Weiteres gefunden hätte. Der Prozess des Austauschs und der Auseinandersetzung miteinander ist der Selbstkenntnis förderlich, um mehr Klarheit zu gewinnen über das eigene Selbst, körperlich, seelisch, geistig: Was sind meine Stärken und Schwächen, Gegensätze und Widersprüche, Gegebenheiten und Möglichkeiten, Veranlagungen und Prägungen, Meinungen und Vorstellungen, Ideen und Begriffe? Was kann ich und was nicht? Welches Nichtkönnen ist zu akzeptieren und welches will ich verändern, mit welchen Mitteln?
Über die Selbstkenntnis hinaus hilft der Andere mir, undich ihm, bei der Selbstdefinition , der individuellen Festlegung des je eigenen Kerns, mit den wichtigsten Beziehungen und Erfahrungen, Ideen und Träumen, Zielen und Werten, Charakterzügen und Gewohnheiten, Ängsten und Verletzungen, auch den schönen Dingen, die bejahenswert erscheinen. Entscheidend ist dies in Umbruchsituationen, wenn alles in Frage steht und mit den Irritationen auch Fragen der geistigen Orientierung neu aufbrechen: Was habe ich erreicht? Was habe ich noch vor? Was ist mir wirklich wichtig? Was brauche ich für mich? Was kann und will ich Anderen geben? Gründe für und gegen ein Tun und Lassen sind gemeinsam mit dem Anderen zu prüfen und sorgsam abzuwägen. Das Ich, das sich seiner selbst sicher fühlt und weiß, wer es ist, kann Anderen sehr weit entgegenkommen, ohne um sich fürchten zu müssen. Mit den Schwierigkeiten der Arbeit an der inneren Integrität ist es vertraut und kann auch Anderen dabei behilflich sein. »Schwierig« ist nur das Ich, dessen Beziehung zu sich selbst ungeklärt ist, »schwierig« sind dann auch seine Beziehungen zu Anderen.
Verflochten mit dem eigenen Selbst geht es sodann um die Deutung des gemeinsamen Lebens , die Arbeit am gemeinsamen Sinn, an den Zusammenhängen mit dem Anderen. Parallel zur Selbstkenntnis kommt es dabei auf eine Kenntnis des Paarseins an, körperlich, seelisch, geistig, um die gemeinsamen und unterschiedlichen Stärken und Schwächen, das Können und Nichtkönnen, die Gegensätze und Widersprüche, Gegebenheiten und Möglichkeiten, Vorlieben und Abneigungen, Wichtigkeiten und Nichtigkeiten, Meinungen und Vorstellungen, Ideen und Begriffe besser zu kennen, die beiden eigen sind, verbunden mit der Frage, was davon zu akzeptieren ist und wer sich an welcher Arbeit der Veränderung versuchensollte: Wer hält was für nötig, was für unnötig? Wem erscheint was richtig, was falsch, was witzig, was peinlich? Was ist unter »Ordnung« zu verstehen, wer braucht wie viel davon und wer sorgt gegebenenfalls dafür? Was gilt individuell als Arbeit, was als Freizeit, was als Urlaub? Was bedeutet beiden Freiheit, was Bindung, was Liebe, wie lässt sich ein Zusammensein darauf gründen? Werde ich wirklich geliebt, auf welcher Ebene? Liebe ich selbst, oder ist mir der Andere gleichgültig? Welcher Nähe bedarf ich,
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