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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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nur nach Thymian und Rosmarin duftet, sondern auch ein karges Leben auf windumtosten Felsen abverlangt. Ausgerechnet das intime Zusammensein, nach dem die Liebenden sich von Anfang an sehnen, bringt diese Herausforderung mit sich: Der Wechsel der Seinsebenen muss vollzogen werden, um von den unbestimmten, unendlichen Möglichkeiten, die die Verliebtheit verzaubern, zu einer Wirklichkeit zu kommen, die in ihrer Bestimmtheit und Endlichkeit deutlich weniger zauberhaft ausfällt: Ontologie der Liebe . Wirklichkeit ist das, was wehtut: Jeder Prozess der Verwirklichung ist mühsam, anstelle von Schwerelosigkeit wird Schwere fühlbar, nach allen Seiten hin werden Grenzen erfahrbar, Enttäuschungen sind unvermeidlich, Träume erweisen sich als unrealistisch, immer neuen Notwendigkeiten ist Rechnung zu tragen, und an die Stelle des Idealbilds des Anderen tritt die reale Erfahrung, »wie er wirklich ist«. Das Ewigweibliche (Ewigmännliche) zieht uns hinan, das Ewigalltägliche wieder hinab.
    Jeder ontologische Übergang fällt schwer, dieser aber besonders, da die Liebenden, vor allem die romantisch Liebenden, sich weigern, sich darauf vorzubereiten. Alltag ist die Normalität, die das Enorme der Leidenschaft konterkariert, der Übergang »von der verliebten zur gelebten Liebe« (Wolfgang Hantel-Quitmann, Die Liebe, der Alltag und ich , 2006), indem der wahre Romantiker einen Verrat an der Liebe wittert: Die »schöne Höhe des Gefühls« steht in krassem Gegensatz zur »Kerkerhaft des Alltags« (Hermann Hesse, Der Steppenwolf , 1955, 105). Alltag, das ist aufstehen, sich waschen, frühstücken, zur Arbeit gehen, Kinder versorgen, Besorgungen machen, heimkehren, kochen, essen, saubermachen, fernsehen, etwas trinken, zu Bett gehen: Nicht sehr aufregend. Die Liebe kann nicht ohne Spannung sein, daher liebt sie den Alltag nicht, der eintönig ist, von Romanen, Filmen, Dramen kaum eines Blickes gewürdigt. Alle Aufmerksamkeit gilt dem zauberhaften Anfang, dem glücklichen oder schrecklichen Ende, den dramatischen Höhe- und Tiefpunkten zwischendurch, aber in der wirklich gelebten Liebe wird nicht unentwegt orgasmisch gejubelt oder blind vor Zorn geschrien. In Frage steht sie nicht so sehr an Anfangs-, Höhe-, Tief- und Endpunkten, sondern in den Zeiten, die dramaturgisch nichts hergeben, die sich aber dadurch, dass sie abgelehnt werden, nicht etwa auflösen. Liebend gerne wollen die Liebenden ihnen entgehen, aber jede Aufwallung, die sie ihnen entgegensetzen, ist energetisch aufwändig, und so ziehen sie sich früher oder später auf ein sparsameres Energieniveau zurück. Selbst in der schönsten Leidenschaft stellt der Alltag sich ein, sobald sie zu dauern beginnt. Wird er nicht von vornherein ins Kalkül der Liebe einbezogen, bringt er sie zum Erliegen.
    Überlegungen zum Sinn des Alltags können helfen, eine andere Haltung im Umgang mit ihm zu gewinnen. In einer Welt der permanenten Veränderung kommt ihm die immer wichtiger werdende Rolle der Beharrung zu. Im alltäglichen Tanz um die unvermeidlichen Dinge kann ein Ritual gesehen werden, dessen verlässliche Wiederkehr Vertrautheit vermittelt und dem gemeinsamen Leben Halt verleiht. Der Alltagmindert das Vollmaß der Liebe, aber alltagstauglicher sind ohnehin kleinere, handlichere Portionen , und eine gelegentliche Lieblosigkeit sorgt für den notwendigen Kontrast. Die Liebe gelingt nicht jeden Tag, der Alltag aber stellt den Rahmen dafür bereit, dass das gemeinsame Leben auch dann weitergeht, wenn sie für eine Weile pausiert. Mit seiner Hilfe wird die Atmung zwischen ihrer An- und Abwesenheit möglich, wenn die Liebenden sich etwa von einer Verausgabung erholen müssen oder andere Dinge sich vordrängen, die zu erledigen sind, oder wenn sonst wie eine zeitweilige Entzweiung durchzustehen ist. Der Alltag ist die ewige Wiederkehr des Gleichen , mit den gleichen sattsam bekannten Aufgaben, der gleichen zermürbenden Regelmäßigkeit, den gleichen wiederkehrenden Problemen, aber auch dafür gibt es gute Gründe: Der Alltag ist eine Maschine zur Herstellung von Wirklichkeit , deren Produktion so schwierig ist, dass sie nicht jedes Mal von Neuem erfunden werden kann; daher werden die einmal gebahnten Wege wieder und wieder genutzt. Entgegen dem äußeren Anschein ist die Wirklichkeit eine zerbrechliche Angelegenheit: Umstellt von Möglichkeiten, die nur auf ihre Chance lauern, kann sie von einem Moment zum anderen schon eine andere sein. Vor allem die Begegnung mit anderen

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