Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
Vom Netzwerk:
Wirklichkeiten führt zur Erkenntnis, dass die vertraute Wirklichkeit nur eine unter vielen ist: Ein »Wirklichkeitsverlust« kann die Folge sein. Der Alltag hingegen bürgt für verlässliche Wirklichkeit, wenigstens bis auf Weiteres.
    Tückisch an der automatisierten Herstellung von Wirklichkeit ist allerdings, dass vieles geschieht, indem scheinbar nichts geschieht: Zentrales Problem des Alltags . Es ist gerade diese trügerische Selbstverständlichkeit der alltäglichen Wirklichkeit, die die Beziehung zwischen zweien gefährdet:Unmerklich schwindet die Leidenschaft, still wächst das Bedürfnis nach ihr und kommt irgendwann unvermutet zum Vorschein oder wandert stumm anderswohin. Und in Zeiten, in denen das Schweigen den Alltag zwischen zweien beherrscht, sprechen die Stimmen in ihrem Inneren nur umso lauter: Viele Auseinandersetzungen werden auf diese Weise geführt und brechen plötzlich hervor; der jeweils Andere weiß von nichts und hat keine Chance, sich rechtzeitig darauf vorzubereiten. Wahrscheinlich aus diesem Grund wird der Alltag auch grau genannt: Weil er einen Graubereich verborgener Entwicklungen, unsichtbarer Veränderungen, geheimnisvoller Vorgänge in sich birgt. Was auch immer aus ihm hervorgeht: Keiner fühlt sich dafür verantwortlich, niemand hat etwas gemacht, und doch hat jeder seine Arbeit daran geleistet, indem er den Prozess gewähren ließ. Wichtig wäre daher, den jeweiligen Alltag nicht immer nur fraglos hinzunehmen, sondern auch mal in Frage zu stellen und sich an seiner Veränderung zu versuchen. Kann sein, dass das Setting alltäglicher Erfordernisse immer das gleiche bleibt, aber Abläufe und Aufgabenverteilungen sind sehr wohl veränderbar – bevor neue Fragen oder erneut die alten auftauchen: Welche Regeln sollen gelten, welche Ausnahmen sind möglich? Wer legt fest, wie dies und jenes gehandhabt werden soll? Wer macht welche Arbeit, wer ist wofür zuständig? Wie kann gestritten werden, wenn die Interessen kollidieren? Wie sind »leere Zeiten« durchzustehen?
    Nicht das Sein, sondern das alltägliche Dasein bestimmt das Bewusstsein. Für die Liebe sind daher das Leben mit dem Alltag und die Gestaltung des alltäglichen Lebens bedeutsamer als die Empfindung reinen Seins, die bedeutungslos wird, wenn sie den Alltag nicht übersteht. Mit dem Alltag zu leben, bewahrt die Liebe davor, in ihm unterzugehen. Wirdauf die pragmatische Einrichtung des Alltags verzichtet, zuckt hier und da noch eine Sternschnuppe des Gefühls auf, in immer längeren Abständen; dann regiert, mit wachsenden alltäglichen Konflikten, der Ärger, über kurz oder lang der Hass, bis alles endet: Tragik der Romantik. Die Liebe wird lebbarer, wenn es in ihr nicht immer nur um Liebe geht , sondern auch um die alltäglichen Erfordernisse, vor denen es kein Entrinnen gibt: Ausgerechnet in der Beziehung, in der die Kräfte im aussichtslosen Kampf gegen den Alltag vergeudet werden, stehen sie der immer neuen Aufmerksamkeit füreinander und neuen Erfahrungen miteinander nicht zur Verfügung. Gerade dann aber, wenn Alltagsfragen die erforderliche Beachtung geschenkt wird, öffnet sich der Freiraum, in dem sich wiederum Zuwendung und Zuneigung entfalten können. Vor allem die Romantiker unter den Liebenden können ihre Beziehung am ehesten dann bewahren, wenn sie sich auf die Pragmatik des Alltags einlassen, mit gebührender Aufmerksamkeit auf das »Kleinste und Alltäglichste«, das sie gerne als banal abtun, das für das Gelingen der Beziehung jedoch entscheidend ist.
    Aber es bedarf einer eigenen Art von Liebe, dem Alltag nicht gram, sondern zugetan zu sein. Entscheidend ist die Haltung, mit der er gelebt wird, die Bedeutung, die ihm gegeben wird: Wer sich defensiv zu ihm verhält, muss viel Energie aufwenden, um gegen ihn anzukommen, letzten Endes ohne Erfolg. Wer offensiv mit dem Alltag umgeht, sich willentlich in ihn fügt, wird sich von seinem Einerlei wenig beeinträchtigt fühlen. Gerade die Haltung, sich ihm zu ergeben, ist die Voraussetzung dafür, sich auch wieder von ihm lösen zu können, um sich dem Nichtalltäglichen zu widmen. Die offensive Haltung macht die Versöhnung mit dem Alltag möglich, getragen von der Einsicht, dass es ihn zwar lange und womöglich sehrlange geben wird, nicht jedoch für immer, denn das Leben und Zusammenleben wird in jedem Fall zeitlich begrenzt sein. Dann kann das weitere Vorgehen so ähnlich ausfallen wie im Film Hautnah (USA 2004, Regie Mike Nichols, nach dem Theaterstück

Weitere Kostenlose Bücher