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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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zeitlicher Hinsicht gewöhnlich gelten, der Rückbezug auf eine mögliche Herkunft aus der Unbegrenztheit und Unendlichkeit, die Bindung der Haltung und des Verhaltens an das, was vor diesem Hintergrund als wesentlich erscheint, kann als Religion verstanden werden.
    Sehnen Menschen sich nach einem solchen Horizont der Horizontlosigkeit, um im Denken und Fühlen nicht an der Mauer ihrer Endlichkeit abzuprallen, können sie in hohem Maße in der Liebe fündig werden: Das Antlitz des Anderen, sagt Emmanuel Lévinas ( Ethik und Unendliches , 1986, 80), » bedeutet das Unendliche«. Wer will, kann das Unendliche mit einem traditionellen Begriff auch das Göttliche oder, kürzer, »Gott« nennen und eine Bezeichnung für die unerschöpfliche, schöpferische Energie darin sehen, die wohl der Grund von allem ist. Durch den Anderen hindurch das Unendliche, Göttliche und Gott zu erfahren und die Todtraurigkeit über die Endlichkeit aufzufangen: Das ist es, wonach Menschen in der Liebe suchen. Finden sie es zumindest zeitweilig, kann die Beziehung wirklich zum Gottesdienst werden und die Liebenden können ihre Liebe besingen, wie Johann Sebastian Bach 1744 in der Kantate 133 einst sein Gottesverhältnis besang: »Ich freue mich in dir!«
    Diese Religion ist nicht an ein Glaubensbekenntnis im traditionellen Sinne gebunden. Um jede Verwechslung mit herkömmlichen Religionen auszuschließen, sprechen manche lieber von einer Spiritualität , die in der Begegnung zwischen zweien erfahrbar ist und ein Inspiriertsein und Beseeltsein von langer Dauer vermittelt. Ähnlich wie bei Religiosität ist der zentrale Aspekt der Spiritualität, jede Vereinzelung hinter sich zu lassen, sich in Beziehung zu fühlen und zu wissen zu allem, was ist, und auf diese Weise Einheit und Geborgenheit zu erfahren. Alle endlichen Dinge und Wesen gehen dieser Annahme zufolge aus einer unendlichen Dimension hervor, die von Energie und somit von Möglichkeiten erfüllt ist. Aus ihr heraus können sich einzelne Möglichkeiten in der Dimension der Wirklichkeit manifestieren und ausdifferenzieren, als »dasEine in sich selber unterschiedne« ( hen diapheron heauto ), gemäß der Zauberformel des romantischen Idealismus, die Friedrich Hölderlin mit Berufung auf Heraklit gegen Ende des ersten Bands seines Briefromans Hyperion (1797/1799) als »Wesen der Schönheit« propagierte.
    Sich inmitten aller Differenzen stets von Neuem auf das zugrundeliegende Eine zu besinnen, das vorzugsweise als »Geist« (lateinisch spiritus ) bezeichnet wird, ist in besonderem Maße in der ungewöhnlich verdichteten Erfahrung der Energie der Liebe möglich, die das gewöhnlich gelebte Leben transzendiert; einer Energie nicht nur für Menschen, an der Menschen jedoch teilhaben, aus der heraus sie leben und zu der sie vermutlich zurückkehren. Da diese »göttliche Kraft« oder »kosmische Energie« alles mit allem verbindet, kann für die Liebenden alles voller Sinn sein: Alles wird durchzogen von Zusammenhängen, die wahrzunehmen und zu erkennen eine zutiefst befriedigende Erfahrung vermittelt, im eigenen Selbst wie auch in der Beziehung zu Anderen, zu allem Leben und zu aller Welt und zu einer möglichen Dimension darüber hinaus, die den denkbar umfassendsten Sinn repräsentiert. Die Fülle des Sinns erklärt, warum die Liebenden sich in ihrer Begeisterung zuweilen am Rande des Wahnsinns wähnen: Das Übermaß an Zusammenhängen bewirkt eine Explosion von Sinn, die jede geläufige Ordnung der Dinge sprengt.
    Im Gewahrwerden dieses Potenzials kommt die Kunst der Erotik zu ihrer Vollendung. Für die Erfahrung der Energie des unendlichen Seins steht Eros , der schon bei der körperlichen Begegnung zur göttlichen Erfahrung werden kann, einmalig oder wohlvertraut; tantrische Techniken leiten dazu an (Margot Anand, Tantra oder Die Kunst der sexuellen Ekstase , 1995). In der Wahrnehmung der Liebenden zerschmilztdabei die körperliche Wirklichkeit, strömt zurück ins Meer der Möglichkeiten, aus dem sie ursprünglich aufgetaucht ist, und löst sich darin wieder auf. Das Zucken, Beben und Schreien, das mit dem Liebesakt einhergeht, zeigt an, dass das Gehäuse des Körpers unter dem Ansturm der Energien, die in ihm toben, zu zerbrechen droht. Der »kleine Tod«, petite mort , wie im Französischen der Höhepunkt der Verschmelzung zwischen zweien genannt wird, lässt anklingen, dass der Tod mehr sein könnte als eine Begrenzung des physischen Lebens, nämlich eine Entgrenzung der

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