Die Liebe atmen lassen
metaphysischen Energien, die das Leben tragen. Erotik, Religiosität und Spiritualität gehen dabei ineinander über, sodass der Akt etwa in kabbalistischer Tradition als heilige Handlung verstanden werden kann, mit einem »Gott im Kommen«, dem Frivolität nicht fremd ist. Auch im Hohelied lassen sich erotische und religiöse Bildersprache nicht auseinander halten, wenn es heißt: »Dein Schoß gleicht einer gewölbten Schale, / nie soll es ihr an Mischwein fehlen« (Übersetzung Stefan Schreiner, 1981). Und moderne Poeten wollen auf religiöse Attribute nicht verzichten, wenn sie ihrer erotischen Sehnsucht Ausdruck verleihen: James Joyce, der die Beziehung zu seiner Geliebten »eine Art Anbetung« nennt, denkt dabei just am Heiligen Abend an das »dunkle Heiligtum« ihres Schoßes ( Briefe an Nora , 24. Dezember 1909).
Die mystische Erfahrung des Einswerdens, die unio mystica , die bei aller Unterschiedlichkeit der Liebenden bereits den körperlichen Akt prägen kann, ist erst recht in Gefühlen und Gedanken möglich: Die unendliche Weite und schier unerschöpfliche Energie des Fühlens und Denkens rufen das Göttliche in Menschen wach und machen ihre Seele, ihren Geist wirklich zum »Spiegel Gottes«. Und für den Einzelnen, dem die eigene, innere Unendlichkeit schon als ein Kosmosfür sich erscheint, wird die intime Begegnung mit dem Anderen zur potenzierten kosmischen Erfahrung: Die unwahrscheinliche Begegnung zweier einsamer Punkte in der unendlichen Weite des Alls bezeugt in seinen Augen den schicksalhaften Zusammenhang des Einzelnen mit allem. Dass sich im sinnlichen Moment der Begegnung und in manchen Zeiten des Fühlens, Denkens und Gesprächs jedes Gefühl für Vergänglichkeit verliert, ist nicht weiter verwunderlich: In diesen purpurnen Stunden der Beziehung, von denen Oscar Wilde in einem Brief einmal sprach (Richard Ellmann, 1991, 752), steht nicht etwa nur die Zeit still; sie existiert schlicht nicht mehr. Im Raum der Unendlichkeit ist sie völlig unbekannt, und so haben die Liebenden, die sich ineinander vergessen, mit ihr nichts mehr zu schaffen. Die Wirklichkeit, in der allein die Zeit zu herrschen vermag, fällt der Vergessenheit anheim, an ihre Stelle tritt die göttliche Erfahrung grenzenloser, schwereloser Ewigkeit. Göttlich ist die Liebe, die in der Wahrnehmung der Liebenden nicht in Endlichkeit und Sterblichkeit aufgeht, sondern Unendlichkeit und Unsterblichkeit erfahrbar macht.
So hinreißend ist diese Dimension der Liebe, dass sich unendliche und doch unerfüllbare Wünsche auf sie richten. Nichts wünschen die Liebenden sich sehnlicher, als dieses Paradies auf Erden für immer zu bewahren. Aber diejenigen, die wenigstens zeitweilig die große Erfüllung erfahren, können nicht verhindern, von Neuem mit der gesamten Spannweite der Erfahrungen konfrontiert zu sein: Nicht nur mit Unendlichkeit, sondern auch wieder mit Endlichkeit, nicht nur mit Freude, sondern auch wieder mit Ärger, nicht nur mit Fröhlichkeit, sondern auch wieder mit Traurigkeit, nicht nur mit Heilung, sondern auch wieder mit neuer Verletzung. Dass die Schwierigkeiten des Lebens nicht im Paradies enden,sondern eher dort anfangen, ist seit Adam und Eva so; niemand ist dafür verantwortlich. Die Hoffnung auf Erlösung vom »Negativen«, von allen Misslichkeiten, denen der Einzelne sich in seinem Dasein ausgesetzt sieht, auch vom Selbstsein, das ihm kerkerhaft erscheint, erfüllt sich nicht, so lange das Leben währt. Der Begeisterung über das Eintauchen in die Unendlichkeit folgt daher oft das Erschrecken über die Rückkehr zur Endlichkeit. »Alle Welt kennt das recht gut«, meint Shakespeare im 129. seiner Sonette , »doch niemand weiß / Wie man den Himmel flieht, der zu dieser Hölle zieht.«
Die zeitweilige Erlösung in der Liebe auf das ganze Leben ausdehnen zu wollen, steigert allenfalls die Bitterkeit der Enttäuschung, und nicht selten werden die misslichen Erfahrungen dem Anderen angelastet: Problem vieler romantischer Beziehungen. Unverdrossen werden dennoch weiterhin romantische Träume einer nie endenden, unendlichen Liebe geträumt, und selbst die Sterne werden vom Himmel geholt, um einen dauerhaften »Einklang des Menschen mit dem Kosmos« zu beschwören, angesichts dessen jedes Einverständnis mit den Wonnen des Gewöhnlichen verwerflich erscheint (Umberto Galimberti, Die Sache mit der Liebe , 2006, 29). Jede Zusatzbeziehung, die zur Zerreißprobe für die bestehende Beziehung wird, lässt sich damit
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