Die Liebe atmen lassen
Alltag hineinragen, und mit der gefühlten Gewissheit, in umfassende Zusammenhänge eingebettet zu sein, entsteht vielleicht eine Wohnung in einer ganz anderen Dimension.
Parallel dazu erfordert die Einrichtung des Lebens im Alltag eine Organisation der Zeit . Vor allem in Zeiten der »Dyschronie« (Byung-Chul Han, Duft der Zeit , 2009), in denen die Zeitwelten auseinander driften, wird die Synchronisierung zwischen zweien zur ständigen Aufgabe: Verabredung, Kompromissbildung und Ausgleiche zwischen den Zeitwelten kommen dafür in Betracht. Gemeinsame Zeiten sind zu definieren, in denen beide füreinander da sind, um miteinander etwas zu machenund sich auseinanderzusetzen, sowie Zeiten des Getrenntseins, in denen sie sich voneinander erholen können. Beim knappen Zeitbudget moderner Menschen kann das eine »Terminplanung« erfordern, um die je eigenen Arbeiten so einzuteilen, dass ausreichend Zeit für die Realisierung dessen bleibt, was das gemeinsame Schöne ist. Hilfreich ist dabei ein widersprüchlicher Gebrauch der Zeit, um bei manchen Tätigkeiten mit Viertelstunden zu geizen und die gewonnene Zeit beim Zusammensein zu verschleudern; ebenso die Nutzung goldener Stunden , in denen eine Arbeit besonders leicht von der Hand geht, um die gesparte Zeit bei anderer Gelegenheit zu verschwenden. Zweifellos dominieren quantitativ die grauen Stunden den Alltag, an Qualität aber gewinnt die Zeit auf allen Ebenen des gemeinsamen Lebens durch die rosaroten Stunden der erotischen Begegnung, die roten Stunden der starken Gefühle, die blauen Stunden der intensiven Gespräche, die purpurnen Stunden der völligen Selbstvergessenheit und auch durch möglichst viele lindgrüne Stunden der einfachen Zufriedenheit. Mit dieser Farbpalette gelingt es am ehesten, die hoffentlich seltenen gelben Stunden der Eifersucht und schwarzen Stunden aller Art durchzustehen, die die Farbenlehre der Zeit erst komplettieren.
In einer Kultur der linearen Zeit , die das Verstreichen der Zeit fortlaufend misst, wird die Wiederkehr erwünschter Stunden erleichtert durch die Installation von Inseln einer zyklischen Zeit , mithilfe von Ritualen des Lebens im Alltag. Rituale ermöglichen die Einrichtung des Alltags in den Farben der Zeit und erleichtern die Übergänge zwischen der nächtlichen Welt des Traums und der täglichen Ernüchterung, zwischen den erträumten Möglichkeiten und der momentanen Wirklichkeit, zwischen den Welten des Selbst und des Anderen, zwischenAlleinsein und Zusammensein, Erwerbsarbeit und Familienarbeit, Arbeitszeit und Freizeit, mithilfe von Morgen- und Abendritualen, Begrüßungs- und Abschiedsritualen, Ess-, Arbeits-, Urlaubs- und Streitritualen. Wiederkehrende Tages- und Jahreszeiten, Frühlingsfeste, Sommernächte, Herbstspaziergänge, Winterabende, Jahreswechsel sind mit Ritualen zu feiern, die dem Leben und Zusammenleben auch in problematischer Zeit Halt und Struktur geben, im ewigen Hin und Her der guten und schlechten Launen, der Freuden und des Ärgers, der Aufwallung angenehmer Gefühle, die es den Liebenden leicht machen, sich nahe zu sein, und dem zeitweiligen Verebben der Gefühle, bei dem sie auf Distanz zueinander gehen und Gereiztheit zwischen ihnen herrscht. Ohne diesen Halt behielte Oscar Wilde Recht, der den Unterschied zwischen einer Laune und einer lebenslangen Leidenschaft darin sah, »dass die Laune etwas länger dauert« ( Das Bildnis des Dorian Gray , 2. Kapitel, 1891).
Gestärkt wird die zyklische Zeit durch die Einrichtung von Gewohnheiten , die Leben und Liebe keineswegs nur belasten, sondern auch entlasten können, da in ihnen vieles von selbst geschieht, sodass Kräfte für das Ungewohnte und Ungewöhnliche frei werden. Wenn die Kunst des Liebens schon nicht auf die Fortdauer der Leidenschaft zielen kann, so doch darauf, leidenschaftliche Elemente und Momente in die alltägliche Landschaft der Gewohnheiten einzufügen. Die Liebe, die nicht nur auf Gefühlen, sondern auch auf Gewohnheiten beruht, steht die Herausforderungen des Lebens besser durch, denn Gewohnheiten sind wohnlicher und halten länger vor; sie sorgen für Zusammenhänge der Kontinuität und machen in diesem Sinne Sinn. Wer mit ihnen einverstanden ist, kann sich in ihrer Vertrautheit geborgen fühlenund muss nicht pausenlos nach Neuem jagen. Schönheit mag der Anfang der Liebe sein, aber zuverlässig durch die Zeit getragen wird sie von der Gewohnheit. Sogar ungeliebte Gewohnheiten des Anderen, die gewöhnlich nur duldsam
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