Die Liebe atmen lassen
gleiche Aufteilung von Gütern und Lasten, eine gleiche Machtverteilung? Können beide gleiche Rechte wahrnehmen, werden die Rechte auf gleiche Weise verwirklicht? Haben beide gleiche Chancen, sich zu entfalten, oder was steht dem entgegen? Wer wird begünstigt, wer vernachlässigt, gelegentlich oder ständig? Wer verfügt über mehr Güter, von denen er dem Anderen abgeben könnte; wer ist belastbarer und könnte mehr Lasten tragen? Werden die Interessen beider in gleicher Weise berücksichtigt, die Aufgaben zwischen beiden auf gleiche Weise aufgeteilt? Sind beide am Zustandekommen von Entscheidungen beteiligt, wird jede Meinung vom jeweils Anderen berücksichtigt? Werden Ideen aufgenommen und vorgebrachte Bedenken geprüft? Findet eine symmetrische Kommunikation statt, bei der es gleiche Voraussetzungen und Chancen zur Äußerung gibt? Gibt es ein gleiches Recht auf eventuelle Zusatzbeziehungen, einen ungefähren Ausgleich auch in der Erfüllung und Enttäuschung von Erwartungen? Wo hat einer dem Anderen Unrecht getan, und wie kann das wieder gutgemacht werden? Und bei welcher Gelegenheit können solche Fragen besprochen und beantwortet werden? Und was ist, wenn es keine gemeinsame Antwort gibt?
Ein mögliches Prinzip für die individuelle und gemeinsame Sorge um Gerechtigkeit ist das Prinzip der Fairness , das die Beteiligten für ihre Ethik der Liebe in Kraft setzen können. Die Festlegung des Prinzips beruht auf einer Selbstverpflichtung, nicht wie in normativistischen Gerechtigkeitstheorien auf einer »natürlichen Pflicht«, der jeder Folge zu leisten hätte. Jeder Einzelne trifft selbst seine Wahl, sich umVerhaltensweisen und Verhältnisse zu bemühen, die er für schön (englisch fair ) halten kann, sei es aus altruistischen Gründen der Sorge um den Anderen und des Daseins für ihn oder aus dem eher egoistischen Interesse , das in die Goldene Regel Eingang findet, den Anderen so zu behandeln, wie das Selbst von ihm behandelt werden will. Die Fairness hält dazu an, auf Gleichheit bei den beanspruchten natürlichen Rechten und bei der Wahrnehmung kodifizierter Rechte zu achten. Als fair kann gelten, Ressourcen des Anderen wie etwa Zuwendung, Aufmerksamkeit, Zeit, Geld nur in dem Maße für sich zu beanspruchen, in dem das Selbst ihm seinerseits Ressourcen zur Verfügung stellt. Fair erscheint, dem Anderen nicht Leistungen abzuverlangen, die er nicht erbringen kann, und auf eigene Vorteile zu verzichten, durch die er benachteiligt werden würde; ferner sich bei jeder Beanspruchung von Privilegien selbst immer wieder von Neuem um den Ausgleich zu bemühen, der angemessen erscheint. Und fair erscheint allgemein, im Umgang miteinander den Rahmen der Regeln zu respektieren, die als gerecht anerkannt werden können, auch in Fragen der Treue und im Falle des Streits.
Das Prinzip der Fairness gebietet, sich immer wieder darum zu bemühen, mit den Augen des Anderen zu blicken , um sich in ihn einzufühlen und hineinzudenken und eine Situation aus seiner Perspektive zu sehen, denn das Selbst wünscht sich nichts Anderes auch vom Anderen für sich selbst: »Wie würdest du fühlen, denken, handeln, wenn du an meiner Stelle wärst?« Mitgefühl und Verständnis entstehen auf diese Weise und mildern jede Machtausübung ab, ein zentraler Aspekt der Gerechtigkeit für die Verhältnisse zwischen zweien wie auch für die Gesamtheit der Gesellschaft. Der entscheidende Kunstgriff zur Realisierung von Gerechtigkeit ist dieser Wechsel der Perspektive ,der das Selbst für einen Moment in den jeweils Anderen hineinversetzt: Der Kluge »stelle sich auch einmal auf die andre Seite und untersuche von da die Gründe des Andern: dann wird er nicht mit so starker Verblendung jenen verurteilen und sich rechtfertigen« (Gracián, Handorakel , Aphorismus 294). Zur Gerechtigkeit, stellte Nietzsche sich vor, ist am ehesten derjenige in der Lage, der das Für und Wider von vielem in sich fühlt und »gleichsam Tastorgane für alle Arten Mensch hat« (Nachlass vom Sommer-Herbst 1884, Kritische Studienausgabe , 11, 182). Es ist das Überheblichkeitsverbot der Klugheit, das dazu anhält, die eigene Sichtweise nicht als allein gültige zu betrachten und die Sichtweisen Anderer ebenso ernst zu nehmen wie die eigene. Wenn aber im realen Alltag zwischen zweien der sanfte Appell, mit den Augen des jeweils Anderen zu blicken, erfolglos ist, bedarf es gelegentlich einer machtvolleren Anregung dazu: Jede Gelegenheit zu einer Erfahrung, die einer dem
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