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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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Anderen verschafft, erschließt diesem sehr bald die andere Perspektive, da sie zu seiner eigenen wird, wenn etwa auf die eigene Untreue eine des Anderen antwortet.
    In der Metapher der Waage sind Ausgleich und Ausgewogenheit zum Symbol der Gerechtigkeit schlechthin geworden, aber die Waage steht nie still, sondern neigt sich mal zur einen, dann zur anderen Seite hin: Atmendes Maß der Gerechtigkeit . Dass ein vollkommener Ausgleich nie zu erreichen ist, ist nicht nur der üblichen Unvollkommenheit menschlicher Verhältnisse geschuldet, sondern auch den notorischen Widersprüchen der Gleichheit selbst, in mehrfacher Hinsicht: Unterschiedlich und widersprüchlich sind schon die Maßstäbe , die die Beteiligten anlegen, um Gleichheit und Ungleichheit zu messen. Widersprüchlich ist zudem die Gleichheit in sich selbst , denn jeder Ausgleich erzeugt mit verlässlicherRegelmäßigkeit neue Ungleichheit: Die Bevorzugung des Anderen, die ich ihm schenke, die besondere Aufmerksamkeit, die ich auf ihn richte, die Macht, die ich ihm zuspiele und dafür eigene Interessen zurückstelle, um ihn stärker zum Zug kommen zu lassen (»affirmatives Handeln«), kann eine Benachteiligung meiner selbst zur Folge haben. Widersprüchlich ist auch das Verhältnis von Gleichheit und Freiheit , denn jede Wahrung von Gleichheit macht eine Eingrenzung von Freiheit nötig, mehr Freiheit zieht mehr Ungleichheit nach sich: Kann ich mich freier bewegen als der Andere, so verfüge ich über ungleich mehr Möglichkeiten zu »sozialen Kontakten«, somit zu anderen Beziehungen, in denen mir Wertschätzung zuteil werden kann; aber ist das auch gerecht? Widersprüchlich ist die Gleichheit ferner, weil zuweilen nur die Anerkennung von Ungleichheit für mehr Gerechtigkeit sorgen kann, wenn etwa die ungleich größere Last, die einer trägt, am ehesten durch seine ungleich größere Belohnung auszugleichen ist. Und wie kann der Ungleichheit beider als Individuen, auch als Mann und Frau mit ihren Eigenarten Rechnung getragen werden? Wie viel Ungleichheit braucht schließlich eine Beziehung, um eben nicht völlig ausgeglichen zu sein und durch zu viel Ausgeglichenheit langweilig zu werden?
    Die Schwierigkeiten, die es bereitet, für gerechte Verhältnisse zwischen zweien zu sorgen, lassen erahnen, wie mühselig es ist, an einer gerechten Gesellschaft zu arbeiten. Die individuelle, gemeinsame und gesellschaftliche Sorge um Gerechtigkeit kann nur darauf zielen, immer aufs Neue den Modus vivendi zu finden, die Art und Weise des Lebens, die einem schönen, bejahenswerten Leben und Zusammenleben nicht gänzlich im Wege steht. Eine noch größere Schwierigkeit besteht darin, diesen Modus wieder zu finden und neuauszutarieren, wenn er durch Ungerechtigkeit, die zumindest einer als solche empfindet, verletzt oder gar ruiniert worden ist. Nur begrenzt tauglich zur Neukonstituierung des Modus vivendi ist es, Recht haben und Recht bekommen zu wollen , sei es im juridischen oder nichtjuridischen Sinne, zumal dann, wenn beide Seiten auf ihrem Recht beharren. Auf der Ebene der alltäglichen Lebensführung, auf der die meisten Konflikte zwischen Individuen Fragen des kodifizierten Rechts kaum berühren und dennoch Fragen der Gerechtigkeit sich stellen, ist viel eher die Klugheit und Kompromissbereitschaft der Beteiligten gefragt, um zu einem tragfähigen Ausgleich zu gelangen, oder die Klugheit eines Mentors, eines Therapeuten oder Mediators, um jene wechselseitigen Zugeständnisse zu vermitteln, die für einen Ausgleich sorgen und das Leben und Zusammenleben neu strukturieren können.
    Die größten Schwierigkeiten aber bereitet das Recht, geliebt zu werden , das Menschen so gerne beanspruchen und das sie in Gedanken und Worten auch so benennen; »Recht« als Ausdruck für einen mit Nachdruck erhobenen Anspruch, keinen bloßen Wunsch, in der Hoffnung auf Erfüllung durch den Anderen, der sich angesprochen fühlen soll, aber nicht dazu gezwungen werden kann. Aus subjektiver Sicht ist das große Problem der Liebe nicht so sehr das Lieben , das vom Ich abhängig ist, sondern das Geliebtwerden , für das der Andere zuständig ist: Die Liebe braucht Gegenliebe, Eros braucht Ant-Eros , wie Sokrates in Platons Phaidros feststellt, aber nicht allen wird dieses Glück zuteil. Eine einfache Lösung des Problems suggerierte einst Seneca: »Wenn Du geliebt werden willst, liebe« ( Si vis amari, ama ; Briefe an Lucilius über Ethik , 9, 6). Die eigene Liebe soll den Anderen dazu

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