Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
Vom Netzwerk:
erscheint, was davon veränderbar ist und mit welchen Mitteln, gibt es immer neuen Streit, von dessen Ausgang viel abhängt: Gerechtigkeit ist der Kitt, der Gemeinschaften zusammenhält , auch kleine; auf ihr beruht letzten Endes der Zusammenhalt der Vielen in einer Gesellschaft. Eine Gemeinschaft und Gesellschaft, die auf grober Ungerechtigkeit beruht, ist von Auflösung bedroht. Aufgrund dieser Bedeutung gehört die Frage der Gerechtigkeit seit jeher zu den großen Themen der Ethik, in der abendländischen Kultur seit den Reflexionen des Sokrates und der Nikomachischen Ethik des Aristoteles. Von Bedeutung ist die Frage allerdings schon für das Leben des Einzelnen mit sich selbst, dieser kleinsten Form menschlicher Gemeinschaft, in der etliche Detail-Ichs, etwa körperliche, seelische und geistige Bedürfnisse gleichermaßen Berücksichtigung beanspruchen. Sodann geht es in der Gemeinschaft zwischen zweien darum, sich voneinander gerecht behandelt zu fühlen (Helm Stierlin, Gerechtigkeit in nahen Beziehungen , 2005), und auf jeder Ebene liegt es im klugen Eigeninteresse des Einzelnen , sich selbst an Regeln und Maßstäbe zu binden, die zu gerechteren Verhältnissen im eigenen Selbst, im Umfeld und darüber hinaus beitragen können. Denn ungerechte Verhältnisse wirken früher oder später in irgendeiner Weise auf das Selbst zurück, auch wenn sie sein Leben nicht direkt beeinflussen: Menschen, die sich ungerecht behandelt fühlen, finden irgendwann ihr Leben nicht mehr bejahenswert, und wenn ihnen das eigene Leben gleichgültig wird, sind sie in der Lage, auch das Leben Anderer als gleichgültig zu behandeln. Darin liegt die individuelle und soziale Sprengkraft der Frage der Gerechtigkeit.
    Lange vor der Inanspruchnahme staatlicher Institutionen ist die Sorge um Gerechtigkeit daher eine Aufgabe für die Ethik des Einzelnen. Bereits mit seiner Meinungsbildung darüber, was unter Gerechtigkeit verstanden werden soll, hat er an der Meinungsbildung aller teil, und mit seinem tätigen Bemühen um Gerechtigkeit treibt er den Gerechtigkeitsdiskurs der gesamten Gesellschaft an. Dabei steht immer neu in Frage, welche Prinzipien bei der Sorge um Gerechtigkeit leitend sein sollen, ferner, welche allgemeinen Regelungen daraus abgeleitet werden können, und wie die konkrete Realisierung von Gerechtigkeit im individuellen und gesellschaftlichen Leben aussehen kann. Welche Bedeutung die individuelle Sorge umGerechtigkeit hat, wird leicht übersehen, wenn nur von »politischer Gerechtigkeit« die Rede ist, um die Staat und Gesellschaft sich zu kümmern haben. Gerechtigkeit ist ein Anspruch, der nicht nur an »die Gesellschaft«, »das System«, »die Verhältnisse« zu adressieren ist, sondern auch an das eigene Selbst und sein Verhältnis zu Anderen. Die Gewichtigkeit der Tugend von Individuen verschwindet nicht in einer »Tugend sozialer Institutionen«. Vor jeder Anklage Anderer, sie würden ihrer Verantwortung nicht gerecht, steht die hohe Hürde der Frage an sich selbst, wie es denn um die eigene bestellt ist, um sich erst einmal selbst um das zu bemühen, was von Anderen erwartet wird. Wie sollen Andere zu einem gerechteren Verhalten angeregt werden, wenn das Selbst keinen Impuls dafür gibt? Wie soll eine ganze Gesellschaft sich um Gerechtigkeit kümmern, wenn ihre einzelnen Mitglieder diesen Wert nicht zum Anliegen ihrer eigenen Lebensführung machen? Es gibt dieses Verbot in der Lebenskunst, wenngleich es nur ein selbstauferlegtes sein kann: Forderungen an Andere zu erheben, ohne selbst an ihrer Erfüllung zu arbeiten. Nur die Gerechtigkeit, die Anderen gewährt wird, bereitet den Boden dafür, auch eigene Vorstellungen geltend machen zu können.
    Bei der Sorge um Gerechtigkeit zwischen zweien ist überdies eine »Einzelfallgerechtigkeit« möglich, wie sie auf gesellschaftlicher Ebene kaum je zu erreichen ist. Wichtig dafür ist, die individuellen Vorstellungen von Gerechtigkeit wechselseitig zur Sprache bringen, um darauf eingehen zu können; zum Teil handelt es sich dabei um kulturelle Vorstellungen , die in der Herkunftskultur, der Herkunftsfamilie und allgemein im Raum der Gesellschaft vorgefunden werden (Elke Rohmann, Gerechtigkeitserleben und Erwartungserfüllung in Partnerschaften , 2000). Um empfundene Ungleichheiten mit »korrektiverGerechtigkeit« ausgleichen zu können, sind Antworten auf Fragen wie diese erforderlich: Gibt es eine ungefähre Ausgeglichenheit von Geben und Nehmen in der Beziehung, eine

Weitere Kostenlose Bücher