Die Liebe atmen lassen
jedes Leid ertragen werden, schon gar nicht, wenn kein »Sinn«, kein Eingebundensein in die Zusammenhänge des Selbst und seiner Beziehung zum Anderen, erkennbar ist. Zur Begrenzung trägt bei, auf dem alten lateinischen Prinzip non vis, sed verbo zu beharren: Nicht mit Gewalt, nur durch das Wort, um die Auseinandersetzung verbal zu führen. Der eigene Verzicht auf den Einsatz von Gewalt kann Vertrauen bilden wie kaum etwas sonst (Jan Philipp Reemtsma, Vertrauen und Gewalt , 2008). Sollte aber die Polarität von Gewalt und Gewaltlosigkeit tatsächlich nicht aufzulösen sein, muss sichalle Sorge darauf richten, für die Androhung von Gegengewalt und deren tatsächlichen Einsatz Formen zu finden, die so maßvoll wie nur möglich ausfallen.
Wenn trotz allem Verletzungen geschehen sind, Leid zugefügt worden ist, fordert die Ethik der Liebe gemäß Goldener Regel , was Verursacher und Betroffener voneinander erwarten würden, müssten sie die Rollen tauschen: Vom Verursacher eine Übernahme von Verantwortung, eine Anerkennung von Schuld, eine Entschuldigung und Wiedergutmachung; vom Betroffenen eine Bereitschaft zur Vergebung und Verzeihung, die die »Mitte der Ethik« darstellt (Klaus-Michael Kodalle, Annäherungen an eine Theorie des Verzeihens , 2006) – sofern das Vergehen auch nur annähernd verzeihlich erscheint. Dem Betroffenen liegt es vielleicht näher, auf Rache zu sinnen, die aber bestenfalls seiner Genugtuung dient, weniger der Befriedung des Verhältnisses. Die wird eher von der Großzügigkeit der Nachsicht bewirkt, die leichter fällt, wenn der Andere »tätige Reue« zeigt und dem Selbst klar wird, wie sehr es selbst der Nachsicht für Schwächen und Verfehlungen bedarf. Dann lösen Ärger, Wut und Hass sich am ehesten auf und vergiften nicht auf Dauer das Selbst und seine Beziehung.
Sollte aber die Ethik der Liebe nicht greifen und die Liebe definitiv in Gewalt umschlagen, aus der die Betroffenen sich nicht mehr selbst retten können, bleibt nur, auf die Ethik der Gesamtheit der Individuen in der Gesellschaft zu setzen. Mit dem Engagement Einzelner und den politischen Wahlakten vieler führt sie dazu, Institutionen wie Frauenhäuser und Männerhäuser bereitzustellen, die den von körperlicher und seelischer Gewalt Betroffenen behilflich sind, sich aus ihrer Notlage zu befreien. Wenigstens auf diese Weise werden Rechte verwirklicht, die eigentlich auch in der Liebe Geltung haben,denn sie ist keineswegs der rechtsfreie Raum, den viele in ihr sehen, die doch zugleich gerne ein ganz bestimmtes Recht in Anspruch nehmen wollen: Das Recht, geliebt zu werden.
Gibt es ein Recht, geliebt zu werden?
Recht und Gerechtigkeit zwischen zweien
Die Erfahrung zeigt: Wo Macht im Spiel ist, bedarf es einer Gegenmacht , um die Machtverhältnisse auszutarieren, auch zwischen zweien. In vormoderner Zeit konnte, was zwischen zweien geschieht, noch ständiger sozialer Kontrolle in der Großfamilie unterliegen, in der sie sich kaum je allein bewegen konnten; aber selbst das bot keinen Schutz vor Machtmissbrauch, der kulturell legitimiert oder zumindest geduldet wurde. In moderner Zeit besteht das Problem der Beziehung zwischen zweien eher darin, dass sie sich gänzlich in ihre Intimität zurückziehen können, in der der Umgang miteinander geradezu beliebig werden kann, eine Konsequenz der »freien Liebe«, die mit der Befreiung von religiösen und säkularen Normen nicht schon Formen der Freiheit gefunden hat. Zwar obliegt es zuallererst dem Einzelnen, seine Machtausübung mithilfe von Selbstmächtigkeit zu kontrollieren; wo es aber daran fehlt, bedarf es der Gegenmacht des staatlich garantierten Rechts , das der Willkür der Macht entgegensteht und damit in der Moderne die Hauptlast einer Formgebung der Freiheit trägt: Es befreit nicht nur von alten Zumutungen der Religion, des Staates, der Gemeinschaft, sondern begrenzt auch neue Zumutungen, die sich aus den Möglichkeiten der Freiheit zwischen Menschen ergeben, auch in einer Liebesbeziehung.
Es ist nicht überflüssig zu erwähnen, dass MenschenundBürgerrechte grundsätzlich auch zwischen zweien und zwischen vier Wänden gelten: Die Unantastbarkeit der Menschenwürde untersagt jede unwürdige Umgangsweise miteinander; das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit gilt auch in einer Beziehung und findet seine Grenze nur dort, wo die Rechte des Anderen verletzt werden; das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit der Person steht jeder Gewaltanwendung
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