Die Liebe atmen lassen
Basis von Gewohnheiten , die ohne intime Körperlichkeit,Gefühle, Gespräche und Transzendenz auskommen, kann die Beziehung bestehen bleiben. Im Gestrüpp der Gewohnheiten fällt das Ende der Liebe gar nicht weiter auf, und der Faden der Kontinuität kann weiterhin an der gemeinsamen Geschichte stricken. Was bleibt, ist nicht zuletzt die gemeinsam übernommene Verantwortung , etwa für die Erziehung der Kinder, die Arbeit an einem gemeinsamen Projekt, das Engagement im Hinblick auf ein Ziel, vielleicht mit der Bereitschaft desjenigen, der für die materiellen Rahmenbedingungen sorgen kann, dem Anderen auch ohne große Liebe wenigstens in dieser Hinsicht ein sorgenfreies Leben zu ermöglichen.
Wenn zumindest einer es anders will, endet mit der Liebe jedoch auch die Beziehung. Aus seiner Sicht überwiegen die Gründe für das Ende , von denen es viele geben kann: Eine Enttäuschung ist nicht mehr wieder gutzumachen, über Jahre hinweg ist die Liebe nicht mehr erwidert worden, es hat zu wenig Schönes, Bejahenswertes in dieser Beziehung gegeben, die körperliche Nähe fehlte, die Gefühle sind eingefroren, die Unmöglichkeit, miteinander zu reden, hält schon zu lange an. »Negative« Erfahrungen wie Ärger, Streit, Desinteresse, kühle Reaktionen, Abweisungen und Vorwürfe häufen sich und finden keinen Gegenpol des »Positiven« mehr, das sie ausbalancieren könnte. Die Unausgewogenheit des Gebens und Nehmens verfestigt sich dermaßen, dass keine Hoffnung auf künftige Zeiten des üppigen Ausgleichs mehr besteht. Unterschiede in den Interessen und Neigungen, in den Bedürfnissen nach Nähe und Distanz, die es vielleicht von Anfang an schon gab oder die sich im Laufe der Zeit einstellten, erscheinen jetzt völlig unüberwindlich. Die anziehenden Seiten des Anderen werden von den abweisenden bis zur Unkenntlichkeit entstellt; die Attraktivität, die er doch mal ausstrahlte, hat sichauf rätselhafte Weise verflüchtigt, und auch wenn es schmerzlich ist, sich das einzugestehen, kann sich jetzt erst herausstellen, dass die Liebe zu ihm »ungerechtfertigt« war (Gabriele Taylor, in: Dieter Thomä, Analytische Philosophie der Liebe , 2000, 139). Nicht selten verfestigen sich solche Gründe parallel zur Begegnung mit einem anderen Anderen , mit dem genau die Körperlichkeit, die Gefühle und Gespräche möglich sind, die ein erfülltes Leben versprechen, auch wenn die Nagelprobe des Lebens im Alltag einstweilen noch aussteht. Warum nicht etwas Neues versuchen? Warum sich über Gebühr schädigen in der überkommenen Beziehung, die das Selbst nur noch verletzt, nicht mehr heilt? Das bisherige Leben kann doch noch nicht alles gewesen sein! Die moderne Freiheit, nicht mehr alles akzeptieren zu müssen, nicht ein Leben lang in sein Schicksal sich fügen zu müssen, erscheint demjenigen, der der Beziehung überdrüssig ist, als Verheißung; ein Ende mit Schrecken zieht er dem Schrecken ohne Ende vor.
Der Andere sieht stattdessen Gründe für das Festhalten , die für ihn auf der Hand liegen: Die Beziehung vermittelt Vertrautheit, wo doch überall sonst nur Fremdheit droht; sie gewährt die Nähe eines anderen Menschen, während nach der Loslösung von ihm nur noch das Alleinsein übrig bleibt; sie ermöglicht, sich mit ihm wohnlich im Leben einzurichten, selbst im Ärger und im Schmerz, die zuverlässig wiederkehren, während mit der Trennung unkalkulierbar Neues ins Leben hereinbrechen wird, in jeder Hinsicht. Die gemeinsamen Gewohnheiten vermitteln Geborgenheit, ihre Abstimmung aufeinander macht einen guten Teil des Lebens aus und stellt einen haltenden Rahmen bereit, aber mit der Auflösung des gewohnten Lebens wird die Zeit keinerlei Struktur mehr haben, die alltäglichsten Dinge werden an Bedeutung verlieren.Darum tut die Trennung so weh, und darum halten viele noch so lange äußerlich an einer Beziehung fest, die innerlich schon längst keine mehr ist: Weil der Andere in all den Zeiten des energetischen und stofflichen Austauschs wirklich zu einem Teil des Selbst geworden ist, das sich bei der Trennung mittendurch zerschnitten fühlt, ganz wie die Kugelwesen im Mythos des Aristophanes nach ihrer Spaltung durch Zeus. Warum nicht alles versuchen, um die Bindung trotz allem zu bewahren? Schließlich ist niemand gezwungen, den impliziten Normen zu folgen, die sich in populären Redeweisen verbergen und ein einzig richtiges Vorgehen suggerieren: »Loslassen« ist eine solche Standardvokabel, aber will ich wirklich loslassen?
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