Die Liebe atmen lassen
gemeinsame Leben auch gegensätzliche Erfahrungen integrieren zu können, das Wohlgefühl ebenso wie das Unwohlsein, die Harmonie ebenso wie die Auseinandersetzung, die Lüste ebenso wie die schmerzlichen Erfahrungen. Viele Lüste verdoppeln sich, wenn sie gemeinsam genossen werden; viele Schmerzen halbieren sich, wenn sie gemeinsam getragen werden; Stress vermindert sich, wenn bejahende Beziehungen der Liebe, der Freundschaft oder der Kooperation ihn auffangen können: Daher ist der Andere der Reichtum des Selbst. Dass die Beziehung zu ihm selbst zuweilen »stresst«, ist vielleicht Ansprüchen auf Perfektion geschuldet, während das Glück der Fülle eher von der Akzeptanz des Imperfekten abhängt: Auf dieser Basis kann das Selbst sich ungestört zum Anderen hingezogen fühlen und sich um eine schöne und bejahenswerte Beziehung zu ihm sorgen, die auch Unschönes übersteht. Sollte aber als äußerste Möglichkeit nur die Trennung bleiben, hat auch das Unglücklichsein, das damit einhergeht, noch Platz in der Fülle dieses Lebens.
Darüber hinaus sind es Gründe des Sinns , die für die Begründung und Bewahrung von Beziehungen sprechen: EineBeziehung stellt Zusammenhänge her, und je fester sie gefügt werden können, desto intensiver fällt die Erfahrung von Sinn aus, schon beim Mögen und Gemochtwerden, erst recht beim Lieben und Geliebtwerden. Nur der, der niemanden mag und von niemandem gemocht wird, in keiner Weise liebt und geliebt wird, sieht sich mit der Erfahrung von Sinnlosigkeit konfrontiert und hält in Ermangelung einer positiven Sinngebung nicht selten noch verbissen an der negativen fest, wie Streit und Hass sie ermöglichen. Menschen können gesunden am Sinn, den eine Beziehung vermittelt, aber auch erkranken am schwindenden Sinn, wenn eine Beziehung zerbricht, denn wo Sinn ist, ist Kraft, wo nicht, Kraftlosigkeit. Selbst der Sinn des Lebens, nach dem viele suchen, zeigt sich in diesen Zusammenhängen, die das Leben erfüllen: Im sinnlichen Sinn der körperlichen Begegnung, im gefühlten Sinn des seelischen Austauschs, im gedachten Sinn der geistigen Auseinandersetzung. Schon die bloße Kontinuität der Beziehung, ihr roter Faden in der Zeit, stellt temporären Sinn her, der in häufig wechselnden Beziehungen entbehrt werden muss: Sinn beziehen sie eher aus der Sinnlichkeit, deren momentaner Sinn jedoch nicht von Dauer sein kann. Und die gemeinsame Geschichte, die sich mit der Dauer der Beziehung fortsetzt, bietet Stoff für den narrativen Sinn einer Erzählung, in hohem Maße in Beziehungen der Liebe und der Freundschaft, in geringerem Maße in Beziehungen der Kollegialität und der Bekanntschaft. Und teleologischer Sinn steht im Vollmaß zur Verfügung, wenn das Dasein für den Anderen zum Ziel und Zweck des eigenen Lebens werden kann.
Der eigentliche Grund für die Beziehung zum Anderen ist jedoch die Sehnsucht, über die eigene Wirklichkeit und Endlichkeit hinauszugelangen und transzendenten Sinn zuerfahren. Das geschieht in einem diesseitigen Sinne bereits bei der alltäglichen Begegnung mit Anderen: Die Transzendenz beginnt beim Gespräch über das Wetter, das eine Gelegenheit zur Überschreitung seiner selbst bietet, um wenigstens mit ein paar Worten aus sich herauszukommen. Die Intensität des Austauschs ist noch steigerungsfähig, wenn sich die Enge des Lebens durch einen bestimmten Anderen hindurch zur Dimension der Möglichkeiten weitet: Gemeinsam mit ihm verfüge ich über weit mehr Möglichkeiten als für mich allein, beispielsweise das Leben, die Welt und mich selbst aus anderen Perspektiven zu sehen. Mit ihm wird das Leben spannender, schöner, auch sicherer, wenn er mental, womöglich auch materiell für mich einsteht. Die Beziehung verliert genau dann an Interesse, wenn der Andere weniger Möglichkeiten in sich birgt, als ich sie für mich allein auch schon habe – sofern nicht eine Bindung entstanden ist, die jenseits aller Interessen Bestand hat.
Vor allem aber ist durch den Anderen hindurch die Dimension des Unendlichen zu erahnen, und zweifellos am meisten in der Liebe. Zwar ist der Andere selbst der Endlichkeit unterworfen, aber nicht genau derselben wie das Selbst; die Beziehung zu ihm erschließt die Erfahrung eines Lebens über die eigene Endlichkeit hinaus und wird zur Ekstase im Wortsinne, zum Herausgehen und »Hinausstehen« aus sich, jedenfalls in bejahenden Beziehungen und auch noch im Streit. Monadisch in sich verschlossen zu bleiben, ist hingegen die Bürde der
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