Die Liebe atmen lassen
Basis eigener Erfahrungen sowie Berichten Anderer über ihre Erfahrungen, die plausibel erscheinen mögen, aber keine letztgültige Wahrheit für sich beanspruchen können, denn immer wieder können andere Aspekte zum Vorschein kommen: Extremer Reichtum der menschlichen Existenz, die niemals durch Erkenntnis zu erschöpfen ist, sondern stets neu erfahrbar und deutbar bleibt. Daraus resultiert die Bedeutung einer immer neuen Aufmerksamkeit auf den Anderen, der Besinnung auf ihn im offenen oder stillen Gespräch.
Eine weitere Grundvoraussetzung für Beziehung sind Kenntnisse vom Selbst , die der Einzelne selbst dem Anderen vermitteln kann, um für ihn kenntlich zu werden. Jede Eigenheit des Selbst, die der Andere kennen lernt, offeriert einen Punkt, zu dem er in Beziehung treten kann: Können und Nichtkönnen, Tun und Lassen, Vorlieben und Abneigungen, Bedürfnisse und Befürchtungen, Gewohnheiten und Charakterzüge, die ein Mensch zu erkennen gibt, werden zum Anlass, immerwieder von Anderen darauf angesprochen zu werden, mag dem Angesprochenen selbst das auch lästig erscheinen. Die Kenntnisnahme durch Andere lässt sich bereits durch den Einsatz des eigenen Körpers beeinflussen, der entweder Anderen zugewandt wird, am deutlichsten bei einer ansprechenden Aufmachung, oder vor ihnen verborgen wird, am wirksamsten bei einer Verschleierung. Mimik, Gestik, Kleidung, modischer Stil oder der Verzicht darauf, Schmuck und so genannte Accessoires, angebliche Nebensächlichkeiten, auch Veränderungen des Körpers mithilfe von Tattoos oder operativen Eingriffen: Alle »Ego-Deko« dient dem Zweck, die Wahrnehmung Anderer zu steuern, Blicke anzuziehen oder abzuweisen und den Zugang zum Selbst zu erleichtern oder zu erschweren. Das geschieht schon bei flüchtigen Begegnungen, erst recht, wenn es um Beziehung und Bindung geht, die dann in weit stärkerem Maße auch auf den Einsatz von Gefühlen und Gedanken angewiesen ist, um dem Anderen Kenntnis von der eigenen seelischen und geistigen Bewegtheit zu geben und seine Zustimmung oder Ablehnung herauszufordern.
Punktuelle Kenntnisse vom Anderen und des Anderen vom Selbst sind dabei nur die Ausgangspunkte der Beziehung: Vom Moment der Begegnung an erweitern sich die Kenntnisse wechselseitig , ein Prozess, der nie zum Abschluss kommt. Wechselseitig verhelfen beide sich dazu, sich selbst besser kennen zu lernen, vor allem mit dem Blick von außen , der dem jeweils Anderen eigen ist, und mit dem Gespräch , das implizit im Stillen, explizit in Äußerungen ständig stattfindet und zuweilen ein Streitgespräch ist. Die Kenntnisse vertiefen sich durch ein gemeinsames Tun , sodass beide sich fortan auf diese Erfahrungen beziehen können, sowohl positiv (»die Schwierigkeiten, die wir gemeinsam durchgestanden haben«)wie auch negativ (»die Verletzung, die du mir zugefügt hast«). Beide werden in ihrer Person zumindest zum Teil zur Reaktion auf den jeweils Anderen, den sie in sich aufnehmen, mit dem sie sich auseinander setzen und von dem sie sich absetzen. Die Beziehung verfestigt sich zur Bindung, wenn zwei sich auf diese Weise ineinander verhaken. Wechselseitigkeit heißt allerdings nicht, dass sie dabei dieselbe Art von Beziehung im Blick haben müssen: Der Eine zielt auf Liebe, der Andere auf Freundschaft; der Eine auf körperlichen, der Andere auf seelischen Austausch; der Eine auf Kooperation, der Andere auf bloße Funktion; der Eine noch auf Auseinandersetzung, der Andere schon auf Ausschluss. Eine Wechselseitigkeit auf gleicher Ebene kann erhofft, nicht aber erzwungen werden. Wichtig wäre, das Verhältnis zueinander zu finden, das beiden gefällt, auf welche Art auch immer.
Und wer macht den Anfang? Im Zweifelsfall der, der danach fragt, und zwar zuallererst mit der Gestaltung seiner selbst: Denn die eigentliche Voraussetzung, jedenfalls für bejahende Beziehungen von der bloßen Bekanntschaft und Kollegialität bis hin zur Freundschaft und Liebe, ist die Öffnung des Ichs zum Du . Nur der jeweilige Mensch kann sich selbst die offene Form geben, die einem Anderen erst ermöglicht, bei ihm »einzuhaken« und nicht an ihm abzugleiten. Über die spiegelgleiche Öffnung des Du zum Ich verfügt im Gegenzug der jeweils Andere, nicht das Selbst. Aber selbst die wechselseitige Öffnung kann beim besten Willen nicht verhindern, dass das Leben unwiderruflich das eigene des Einzelnen bleibt: Nur ich weiß in jedem Augenblick, wie mein Leben sich anfühlt, und nur ich verbringe das gesamte
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