Die Liebe atmen lassen
sondern davon Abstand nehmen zu können , um frei zu wählen zwischen einem Leben mit sich allein oder gemeinsam mit Anderen. Unverzichtbar ist ein Leben mit Anderen nur noch im mittelbaren Sinne, als Leben in Gesellschaft, bei dem ein Mensch sich jedoch körperlich, seelisch und geistig von Anderen fern halten kann. Vollständig der freien Wahl obliegt das unmittelbare Leben mit Anderen, das nur noch dann zur Notwendigkeit wird, wenn die Beteiligten selbst das wollen.
Damit verliert die Beziehung eines Ichs zu einem vertrauten, über längere Zeit hinweg verlässlichen Du an Selbstverständlichkeit. Es ist selbstverständlich, dass zu jedem Ich ein Du gehört? Nur noch dann, wenn ein Ich sich auch darum bemüht. Im Zuge moderner Freiheit ist die Befreiung des Ichs vom Du und des Du vom Ich möglich, für viele auch wirklich geworden. Angesichts dessen hat die hymnische Feier des Ich und Du (Martin Buber, 1923) nur noch nostalgischen Wert: Sie erinnert daran, was das Menschsein einmal war, bevor das Du entschwand und Ich und Ich übrig blieben. Dass da kein verlässliches Du mehr ist, erfahren junge Menschen, für die sich alle Vertrautheit mit Anderen in rasch wechselnden virtuellen Beziehungen erschöpft. Im Berufsleben unterminieren wechselnde Einsatzorte rund um den Globus vertrauensvolle Bindungen, bis nur noch funktionale Beziehungen vorherrschen. Und älter werdende Menschen sind auf sich allein verwiesen, weil oft kein Du sich mehr für sie interessiert. In der Konsequenz laufen die modernen Möglichkeiten der Befreiung von Beziehung und Bindung auf das völlige Freisein aller von allen hinaus. Bindungen werden zerschnitten durch Befreiungen, die zwar andere Bindungen ermöglichen, die aber ihrerseits wieder durch Befreiungen zerschnitten werden. Nicht nur für den modernen Film, auch für die moderneBeziehungskultur ist die »Schnitttechnik« charakteristisch geworden: Die gesamte Moderne erscheint als eine Kultur des Schnitts , das moderne Leben als bloße Abfolge schnell geschnittener Sequenzen mit je unterschiedlicher Besetzung.
In dem Maße, in dem die Freiheit wächst, greift eine neue Einsamkeit um sich: Frei, aber einsam, Einsamkeit aufgrund von Freiheit. Was zunächst ein freies, gewolltes Alleinsein war, wird unvermutet zu einem unfreien, ungewollten. Und immer mehr Menschen gleiten im Laufe der Moderne vom gewollten ins ungewollte Alleinsein ab. Unverhofft wird, was sie sich ursprünglich ersehnten, zu einer misslichen Erfahrung, denn anders als das gewollte Alleinsein bringt das ungewollte nicht die erhoffte Rückkehr zu sich in der Einsamkeit mit sich, um wieder auf Andere zugehen zu können. Vielmehr macht ein Eindruck von Sinnlosigkeit sich breit, denn da ist kein Zusammenhang mehr von Mensch zu Mensch; der Einzelne sieht sich dem Leben allein ausgesetzt und vermag seine Punktförmigkeit nicht mehr zu sprengen. Der Beziehungspfeil, der gerade eben noch zum Anderen hin unterwegs war, wird zurückgebogen auf das eigene Selbst und kreist selbstbezogen nur noch in ihm selbst. Zwar wird durch die Einsamkeit die Sehnsucht nach dem Anderen verstärkt, aber auch die Enttäuschung, wenn er gefunden ist und den ins Gottgleiche gesteigerten Erwartungen an ihn nicht genügt. In der bedrückenden Enge brechen Fragen auf: Was ist das überhaupt, eine »Beziehung«, und wie kommt sie zustande, wenn sie schon so unentbehrlich erscheint?
Eine Grundvoraussetzung für Beziehung sind Kenntnisse vom Anderen . Etwas von ihm zu kennen, etwa sein Gesicht, seine Stimme, seinen Stil, auch etwas von seinem Können und Nichtkönnen, ermöglicht erst, sich in Gedanken, in Gefühlen,in der körperlichen Bewegung darauf zu beziehen. Der Andere tritt aus der Anonymität des Fremden hervor und wird kenntlich; nichts von ihm zu kennen hingegen macht Beziehung unmöglich. Kenntnisse gehen von einem Menschen aus, wie er erfahrbar ist und sich wirklich verhält, verbunden mit Deutungen seines Seins, auch wenn sie nicht ausfindig machen können, wie er »in Wahrheit« ist. Kenntnisse zu erstreben, erscheint sinnvoll, nicht hingegen das Streben nach Erkenntnis des jeweils Anderen. Nie kann ein Selbst beanspruchen, den Anderen zu Ende erkannt, gar »durchschaut« zu haben und abschließend zu wissen, was für ein Mensch er ist, auch wenn das zuweilen geglaubt wird. Selbst dann, wenn die Kenntnisse von vielen in eine allgemeine Menschenkenntnis münden, bleibt diese subjektiv, vorläufig und unvollständig. Sie entsteht auf der
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