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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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dafür, bewusst anders sprechen, agieren und reagieren zu können, als die Notwendigkeit es vorsieht. Einblick und Einübung können das Spiel von Zufall und Notwendigkeit aussetzen – für einen Moment, bevor es auf veränderte Weise wieder einsetzt. Oder bringt die Notwendigkeit im Rahmen einer Konstellation womöglich selbst Zufälle hervor, die somit nicht mehr akausal zu verstehen wären, also keine »Zufälle« mehr sind? Liegt bereits dem Entstehen der Konstellation, dem »zufälligen« Zusammentreffen von Menschen eine Notwendigkeit, eine Fügung, eine Vorbestimmtheit zugrunde?
    Die alte Frage nach der Zufallsentstehung , nach dem Warum und Woher des Zufalls, wird wohl keine letzte Antwort finden, denn dafür bedürften Menschen einer Gottesposition, von der aus die Gesamtheit des Geschehens und seiner Gründe zu überblicken wäre. Denkbar ist, dass das Spiel der Zufälle selbst Notwendigkeit erzeugt, wenn ein Zufall zufälligerweise auf einen anderen trifft, beide eine gemeinsame Dynamik entwickeln und weitere Zufälle anziehen. Dass Zufälle sich aufschaukeln, sowohl auf günstiger wie auf ungünstiger Seite, ist ein Phänomen, das als Gesetz der Serie (Paul Kammerer, 1919) geläufig ist: Wo etwas gut geht, geht noch mehr gut; wo etwas schief geht, geht noch mehr schief. In derKonstellation zwischen zweien ist einer zufälligerweise schlecht gelaunt, zufälligerweise der Andere auch, und so kommt das große Rad in Schwung, bis die Serie sich irgendwann wieder auflöst und vielleicht ins Gegenteil verkehrt. Eine gleichmäßige Verteilung von Zufällen wäre denkbar, fiele aber wohl allzu leblos aus; das Leben liebt eher die Koinzidenz der Kontingenz , die Häufung der Zufälle, den oft kuriosen Lauf der Dinge (Peter Fischli und David Weiß, Kunstinstallation, Documenta Kassel, 1987). Der Eindruck der Serialität kann jedoch auch auf einer simplen optischen Täuschung beruhen: Ist die Aufmerksamkeit erst einmal auf ein Phänomen gerichtet, wird es aufgrund einer neuronalen Bahnung der Wahrnehmung vermehrt wahrgenommen, ohne dass dies mit einem vermehrten Vorkommen zu tun haben müsste.
    Kein Zufall und wohl auch keine Täuschung kann hingegen die Regelmäßigkeit sein, mit der in einer Konstellation Gegensätze zum Vorschein kommen, schon in der Konstellation zwischen zweien: Wenn einer eine Meinung hat, muss der Andere die Gegenmeinung vertreten. Wer heute für eine Sache eintritt, tritt morgen gegen sie auf den Plan – und könnte so zur Einsicht gelangen, dass auch die Gegenseite über gute Gründe verfügt. Die gegensätzlichen Pole sind austauschbar, aber nicht aufhebbar. In jeder Hinsicht sehen Menschen sich genötigt, Gegensätze zu repräsentieren, zwischen denen eine Spannung entsteht und sich gelegentlich auch entlädt, wie beim Phänomen der Elektrizität. Es scheint sich geradezu um ein Gesetz der Polarität zu handeln, das dabei wirksam ist, und die Polarität geht mit Perspektivität einher: Von jedem Pol aus eröffnet sich eine Perspektive auf Andere, auf Dinge, auf Leben und Welt, die gegensätzlich zur Perspektive des anderen Pols ausfällt und gegensätzliche Ansichten, Meinungen undGefühle hervorbringt. Immer wieder zwingt das Leben die Polarität regelrecht herbei, wohl weil die Linearität des Einsseins seiner Spannung nicht förderlich ist. Die gegensätzlichen Pole ermöglichen Anziehung , und gerade dort am stärksten, wo die Unterschiede am größten sind. Der Anziehung nachzugeben, führt allerdings zum Verschwinden der Gegensätze, zu gleichnamigen Polen, die wiederum zur Abstoßung tendieren: Daher tun gerade diejenigen sich am meisten weh, die sich am nächsten sind. Mit dem Wiederaufleben der Gegensätze wird die Polarität wieder hergestellt, die eine neuerliche Anziehung ermöglicht, und so wieder von vorne.
    Das regelmäßige Hin und Her zwischen Anziehung und Abstoßung, Nähe und Distanz wissen die Beteiligten selbst selten zu schätzen. Um interne Polarisierungen zu vermeiden, wird lieber ein externer Gegenpol definiert, repräsentiert etwa von einem Gegner oder Feind, der damit unwissentlich und unwillentlich zum Bestandteil der Konstellation wird. Sollte der Kampf, der von Stund an gegen ihn geführt wird, erfolgreich sein, ist das Erstaunen groß, wie rasch die interne Polarisierung von Neuem aufbricht. Immer dann kippen die Gegensätze in einer Konstellation sogar ins Pathologische , wenn ihr ein zu hohes Maß an Gemeinsamkeit abverlangt wird, die jeweilige

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