Die Liebe atmen lassen
stemmen sie sich gegen den unwiderstehlichen Sog, der nicht nur Menschen vom Werden zum Vergehen hin zieht, Menschen aber bei vollem Bewusstsein. Moderne Menschen vertrauen nicht mehr auf ein neuerliches Werden nach jedem Vergehen, vielmehr erscheint ihnen das epochale Werden und Vergehen des Lebens suspekt, mehr noch als das episodische , das im Leben unentwegt geschieht. Die moderne Utopie einer Aufhebungder Gegensätze wollte das Werden , das Jungsein, den Frohsinn, die Lust, die Gesundheit, das »Positive«, das Glück in diesem Sinne allein übrig behalten, und tatsächlich war die Moderne überaus erfolgreich in der Orientierung des Lebens zu diesem Pol hin. Das aber eliminierte keineswegs den Gegenpol, es sorgte nur für empfindlichere Reaktionen auf das Vergehen , das Älterwerden, die Wehmut, den Schmerz, die Krankheit, den Tod und all das »Negative«, dessen Existenzberechtigung angezweifelt wird. In einer anderen Moderne kann der Einzelne selbst über seine Haltung zur unaufhebbaren Polarität des Lebens entscheiden: Er kann sie negieren , gegen sie revoltieren oder angesichts ihrer Präsenz resignieren , er kann sie auch akzeptieren oder sogar affirmieren . Und manche Gegensätze lassen sich modifizieren , um sie abzumildern, oder utilisieren , um Nutzen aus ihrer Spannung zu ziehen, oder ironisieren , um besser mit ihnen leben zu können. Wo Gegensätze aber außer Blick geraten, wären sie zu rekonstruieren oder durch Polarisierung zu provozieren , um sie stärker hervortreten zu lassen.
Wie das Leben des Menschen allgemein, so ist auch sein Beziehungsleben von Grund auf von Polarität geprägt: Es bewegt sich zwischen gegensätzlichen, bejahenden und verneinenden Beziehungen, und auch innerhalb einer Beziehung selbst folgen die Beteiligten im Umgang miteinander oft gegensätzlichen Logiken , die nur zum Teil mit gegensätzlichen Interessen zu erklären sind: Die je eigenen Gefühle, Überlegungen und Erfahrungen verdichten sich zu einer Logik des Selbst , die ihre Schlüsse und Ausschlüsse kennt, um anhand dieser Ordnung alle Dinge und Verhältnisse als rational oder irrational, richtig oder falsch, erwünscht oder unerwünscht, günstig oder ungünstig zu beurteilen. Trifft die Logik des Selbst auf die Logik des Anderen , ist die Kollision programmiert: Beide wissen sichauf der richtigen, folgerichtigen Seite; beide konstruieren Zusammenhänge, die aus ihrer Sicht sinnvoll sind; beide fühlen sich »im Recht« und beharren darauf. Das Rechthabenwollen ist der Versuch, die eigene Logik zu bewahren, und sei es gegen jede erkennbare Logik der Dinge. Auf Biegen und Brechen halten Menschen an der Logik fest, an der sie lange gearbeitet haben, um in der Ungewissheit und Unberechenbarkeit des Lebens wenigstens diese Gewissheit und Berechenbarkeit sicherzustellen. Es läge nahe, die unterschiedlichen Logiken zu akzeptieren und die Kluft dazwischen mit dem immer neuen Versuch zum Verständnis , zum Nachgeben, zum Kompromiss zu überbrücken, und mit großem Wohlwollen gelingt das auch. Dass Menschen es aber oft vorziehen, ihre Unterschiede zu einer nie versiegenden Quelle des Missverständnisses auszubauen, bestätigt nur das Bedürfnis nach Polarität und ist überdies wohl dem praktischen Leben selbst geschuldet: Nicht wirklich kann ständig alles, was der Andere sagt und tut, aus dessen eigener Logik heraus verstanden werden.
Für ein Leben, in dem Fülle erfahrbar sein soll, sind die Gegensätze des menschlichen und zwischenmenschlichen Daseins unverzichtbar, und lebbar werden sie durch ihr Wechselspiel in der Zeit: Die Abfolge der Lebensphasen gibt den Gegensätzen Raum, das Leben atmet und pulsiert auf diese Weise. Das geschieht im Kleinen schon bei episodischen Phasen, den von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag wechselnden Launen und Stimmungen, mood swings , die dem Einzelnen sehr zu schaffen machen und in der Beziehung der Liebe am stärksten zu erfahren und am schwierigsten zu bewältigen sind. Erst recht treten die Gegensätze im Großen bei epochalen Phasen hervor: Im Wechselspiel durch die Zeit hindurch, diachron , nicht gleichzeitig, synchron , halten sich die Gegensätze vonAnspannung und Entspannung die Waage, ebenso das Hinaus in die Welt und Zurück zu sich selbst. Das Leben wogt hin und her zwischen Zeiten, in denen es wunderbar, dann wieder furchtbar erscheint, in jeder Phase aber mit dem Anspruch auf alleinige Wahrheit, dass das Leben so »ist« und für immer so bleiben wird – bis die
Weitere Kostenlose Bücher