Die Liebe atmen lassen
Einzelne selbst, aus Gründen, die er selbst zu verantworten hat: Leuchtet es mir ein, dass das Leben so spielt, und was bedeutet das für mich? Ist es nachvollziehbar, dass die Beziehung in Gefahr ist, wie der Andere zu erkennen meint, und was folgt daraus? Bin ich überzeugt davon, den Anderen zu lieben und von ihm geliebt zu werden, auch wenn es keine letzte Gewissheit darüber geben kann?
Dass das Leben ein Wechselspiel zwischen Gegensätzen ist, dass es daraus seine Spannung bezieht, dass es Leben nur sein kann, wenn Energie im Fluss ist, dass die wiederum gegensätzliche Pole braucht, um fließen zu können: Das ist nicht die Behauptung einer objektiven Wahrheit, sondern eine Beobachtung und Erfahrung, deren subjektive Deutung an Plausibilität gewinnt, sobald sie Phänomene erklärbar macht. Phänomene aufmerksam zu betrachten, ist Sache der Phänomenologie , der Lehre all dessen, was als Erscheinung ( phainomenon im Griechischen) sichtbar wird, aber auch der Strukturen, die dem Sichtbaren zugrunde liegen. Dass Phänomene polar organisiert sind, dass die Pole sich dabei nicht statisch , dualistisch in bloßer Differenz gegenüberstehen, vielmehr dynamisch , dialektisch aufeinander bezogen sind und sich wechselseitig beeinflussen, regelmäßig dem Prinzip nach, unregelmäßig nur inder Art und Weise: Dieser alten Einsicht Heraklits scheinen neuere naturwissenschaftliche Erkenntnisse zu entsprechen. Subatomar blitzt zu jedem positiv geladenen Elementarteilchen ein negativ geladenes Antiteilchen auf. Atomar umwirbelt eine Hülle von negativ geladenen Elektronen einen positiv geladenen Kern. Physikalisch fließt zwischen Plus- und Minuspolen ein Teilchenstrom. Chemisch entsteht aus der Anziehung zwischen Wassermolekülen mit polarer Ladungsverteilung Wasser. Das Magnetfeld der Erde spannt sich zwischen gegensätzlichen Polen, die die Plätze tauschen, ihre Polarität aber nicht verlieren können. Meteorologisch hält die Polarität von Hoch- und Tiefdruckgebieten das Wettergeschehen in Schwung. Biologisch stellen Zellen mit Membranen eine Polarität zwischen innen und außen her, um den Stoffaustausch dazwischen zu regulieren. Aus gegensätzlichen Keimzellen entstehen undifferenzierte Stammzellen, die sich in weitere Stammzellen und in ausdifferenzierte Körperzellen aufteilen: So pflanzt sich das Leben fort, und mit dem Streben nach immer größerer Ordnung stemmt es sich der Entropie, der Tendenz des Ganzen zu immer größerer Unordnung, polar entgegen.
Die grundlegende Bedeutung des Wechselspiels zwischen Gegensätzen ist auch im Leben von Menschen zu beobachten und erweist sich als Teil des menschlichen Daseins, dessen Regelmäßigkeiten die Anthropologie , die Lehre vom Menschen ( anthropos im Griechischen), im Blick hat: Physiologisch bewegt sich die Atmung zwischen Weitung und Verengung der Lunge, pulsieren Herz und Kreislauf zwischen An- und Entspannung. Psychologisch entsteht in Abgrenzung zum äußeren Leben ein Innenleben, das wiederum zwischen der offensiven Wendung nach außen (physiologisch gestützt vomNerv Sympathicus ) und der defensiven Wendung nach innen (unterstützt vom Parasympathicus ) atmet. Jeder Mensch erfährt Spannung zwischen gegensätzlichen Seiten in sich, manchmal zugespitzt bis zum Widerspruch, bei dem die Gegensätze sich wechselseitig auszuschließen versuchen: Zwischen Körper und Geist, Denken und Fühlen, gegensätzlichen Gedanken und Gefühlen, zwischen einem ungewissen Maß an Freiheit und einem gefühlten Unmaß an Unfreiheit, zwischen Lässigem, das gefällt, und Lästigem, das schwerfällt, zwischen Gelingen und Misslingen, Mut und Angst, Lust und Schmerz, Freude und Leid, Gesundheit und Krankheit. Zuweilen fühlen Menschen sich in ihrem Leben beflügelt und »heben ab«, aber regelmäßig zieht ein Gesetz der Schwerkraft sie wieder nieder, unregelmäßig nur dem Zeitpunkt nach. Jeder Mensch macht Erfahrungen, die er für gut oder schlecht hält, aber nichts ist wiederum so schlecht, dass es nicht für etwas gut wäre, und nichts so gut, dass nicht noch etwas Schlechtes darin verborgen sein könnte. Auch »das Gute« ist nur jetzt gut, dann vielleicht schlecht, und zu wählen ist oft nicht zwischen gut und schlecht, sondern zwischen schlecht und weniger schlecht. Jeder Versuch, nur den Pol des Guten allein übrig zu behalten, ist zum Scheitern verurteilt.
Ein Problem für Menschen in moderner Zeit ist jedoch vor allem der Gegensatz von Werden und Vergehen . Erbittert
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