Die Liebe atmen lassen
Beziehung also gänzlich frei von Spannung bleiben soll, zugunsten einer Harmonie, die den »positiven« Pol der Übereinstimmung in allen sich stellenden Fragen bewahrt, den »negativen« Pol der Kritik und mangelnden Übereinstimmung aber eliminiert. Weniger pathologisch gerät eine Konstellation, die in kalkulierter, kultivierter Form auch dem negativen Pol Rechnung trägt, etwa durch die Kritik, die geübt werden kann, aber nicht gleich alles in Frage stellen muss, oder durch die gelegentliche Bosheit, die auch wieder gutzumachen ist.Konstellationen leben davon, auf einer Basis von Gemeinsamkeiten den Gegensätzen Spielraum zu lassen, die das Leben erst spannend machen.
Leben in Polaritäten:
Zur Logik des Lebens in Beziehungen
Beziehungen sind ein Element des Lebens, also folgen sie auch der Logik des Lebens , Logik als Regelmäßigkeit eines Geschehens verstanden, Regelmäßigkeit als Beharrlichkeit in der Verlaufsform einer Bewegung. Einblicke in die Logik des Lebens gehen aus Beobachtungen hervor, die nicht für sich schon einen Anspruch auf Wahrheit erheben können, sondern der Deutung bedürfen. Damit rückt die Hermeneutik in den Mittelpunkt, die Kunst des Deutens und Interpretierens ( hermeneuein im Griechischen), gerade dann, wenn es um Wissen, Kenntnis und Erkenntnis geht: Was ist eigentlich Leben, das so gegensätzlich sein kann? Was ist der Zustand der Beziehung, in der so gegensätzliche Erfahrungen gemacht werden? Mit welchen Regelmäßigkeiten habe ich im Leben, in einer Beziehung und insbesondere in der Beziehung der Liebe zu tun? Ist es wirklich Liebe, auch wenn es manchmal keine ist? Was geschieht gegenwärtig? Was davon ist unproblematisch, was beunruhigend? Wie kann ich darauf antworten? Immer dann, wenn es keine Eindeutigkeit gibt, wie etwas wirklich »ist«, also eigentlich immer und überall, muss gedeutet und interpretiert werden, im Lebensvollzug wie in der Wissenschaft: Eine erste Deutung legt fest, was zu wissen wichtig wäre und mit welchen Mitteln Erkenntnis zu gewinnen ist. Eine zweite Deutung gilt den gewonnenen Erkenntnissen, die nicht schon für sich sprechen, sondern einer Deutung bedürfen,regelmäßig beeinflusst von der ersten Deutung: Was ich erkennen will, glaube ich auch zu erkennen. Eine dritte Deutung gilt den Folgerungen für die Praxis, die ich aus Erkenntnissen ziehe: Zwar ist jedes Wissen vom Leben, von Beziehungen und insbesondere von der Beziehung der Liebe hilfreich, um mich im praktischen Leben daran zu orientieren, aber keine Folgerung ist zwingend geboten, aus keinem Wissen folgt automatisch ein bestimmtes Handeln.
Und zu jeder Deutung gibt es noch eine andere , oft gegensätzliche , denn die Wirklichkeit umfasst weit mehr Aspekte, als irgendeine Erkenntnis fassen kann, und die Wahrheit birgt in sich weit mehr Facetten, als irgendeine Aussage zum Ausdruck bringen kann. Zweifellos gibt es »die Wahrheit«, aber sie ist immer eine andere. Im Besitz der gesamten Wahrheit kann wohl nur einer sein, der kein Mensch ist: Menschen sehen immer nur einzelne Facetten und setzen sie bestenfalls zu einem Mosaik zusammen, das nie vollendet ist. Jedes Wissen kann jederzeit von neuem Wissen überholt werden, und zu keinem Zeitpunkt wissen Menschen, was sie alles nicht wissen; bei allem Wissen bleibt ein rätselhafter Rest, ein unauflösliches Geheimnis als Gegenpol des Wissens. Wer Gewissheit sucht, findet sie am ehesten in der Gewissheit der Ungewissheit, und die Ungewissheit als gewiss zu akzeptieren, ist der Gelassenheit zuträglicher als die Gewissheit, die ständig von Ungewissheit bedroht ist.
Das verweist bereits auf der Ebene der Epistemologie , der Lehre von der Erkenntnis ( episteme im Griechischen), auf das Phänomen der Polarität. Der Prozess der Erkenntnis selbst, erst recht jeder Erkenntnis in Bezug auf die Logik des Lebens, muss zwischen Gegensätzen den Weg finden: Zwischen dem Bemühen um Objektivität , auch wenn eine reine Objektivitätnicht erreichbar erscheint, und der Akzeptanz von Subjektivität , zumal das subjektive Gespür mit reicher Erfahrung und Besinnung die Dinge und Verhältnisse noch anders erfassen kann als eine vermeintliche Objektivität. Die Gegensätze begegnen sich in der Plausibilität . Plausibel ist, was einleuchtend, nachvollziehbar und überzeugend erscheint, bis auf Weiteres, auf der Basis des Hin- und Herwendens und Abwägens von Argumenten, Überlegungen und auch Gefühlen. Was plausibel erscheint, entscheidet letztlich der
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