Die Liebe atmen lassen
denen Menschen zu leben haben und auch, wie die Beziehungen zwischen ihnen zu gestalten sind, wie insbesondere Liebende und Eheleute miteinander umzugehen haben, welche Gefühle sie zeigen dürfen, welche Gedanken denkbar sind und welche nicht, auch zu welchen Zwecken ihre Beziehung dient (einen Eindruck davon vermitteln Jane Austens Romane aus dem späten 18. und frühen 19. Jahrhundert). In modernen Kulturen ist die Befreiung davon möglich geworden, sodass Individuen ihre Konstellation selbst wählen und die Art ihrer Beziehung und des Verhaltens zueinander zu einer Frage der Definition und des Experiments machen können, auch machen müssen: Nichts steht mehr fest, alles muss individuell erprobt und festgelegt werden. Auf diese Weise befreit zu sein, kann darauf hinauslaufen, sich selbst neu erfinden zu müssen.
Anders als Sterne, die durch kosmische Vorgänge zu Konstellationen gezwungen werden, aus denen sie sich nie mehr zu lösen vermögen, können sich Menschen in moderner Zeit an der Veränderung von Konstellationen versuchen, um nicht an problematischen Beziehungen in unguten Verhältnissen fürimmer festhalten zu müssen: Sie entscheiden selbst, mit wem sie welche Beziehung eingehen und pflegen, welche Beziehung sie brachliegen lassen oder gar verweigern. Diese Arbeit am Netz der Beziehungen ist ein Networking , das weit mehr im Blick hat als die »richtigen Kontakte«, die auf einen vordergründigen Nutzen zielen und rasch zerbrechen, wenn sie »nichts bringen«. Mit ihrer Haltung und ihrem Verhalten, ihren Deutungen und Interpretationen arbeiten Menschen vielmehr selbst an den Sinnfeldern ihres Lebens, erarbeiten sich einen Fundus an Möglichkeiten und gestalten die Bedingungen ihres Umfelds so, wie es ihnen passfähig erscheint, sodass auf längere Sicht auch eher geschehen kann, was ihnen zupass kommt. Jede Beziehung, jede Art der Pflege und Nichtpflege wirkt sich auf die gesamte Konstellation aus, die in ihren Wechselwirkungen kaum überschaubar ist und doch das Leben jedes Einzelnen entscheidend prägt.
Zu verändern ist eine Konstellation vor allem dadurch, bestehende Beziehungen aufzulösen, sie »einschlafen zu lassen« und neue einzugehen, wenngleich mit der gebotenen Vorsicht, um nicht das moderne Geschäftsgebaren des hire and fire zu übernehmen, das nur noch funktionale Beziehungen kennt: Personen so lange auszutauschen, bis zufälligerweise eine passfähige Konstellation entsteht. Gelingt die Veränderung der Konstellation, erfährt ein Individuum sich selbst als ein Anderes: Andere Möglichkeiten seiner selbst kommen zum Zug, wenngleich dafür wiederum andere nicht. Und wenn eine Konstellation misslingt? Zuweilen wissen die Beteiligten selbst, dass sie »nicht gutgehen kann«. Und warum lassen sie sich dennoch darauf ein? Weil jeder Versuch zur Abänderung sehr viel Kraft kostet. Und weil sich nicht wirklich zuverlässig vorhersagen lässt, wie eine Konstellation sich entwickeln wird.Möglichkeiten können sich ergeben, die für unmöglich gehalten wurden, und gegen alle Wahrscheinlichkeit steht auch das Unwahrscheinliche, Undenkbare und Unmögliche offen, das dennoch wirklich werden kann; das Leben scheint sogar eine Vorliebe dafür zu hegen.
Die Bedeutung von Konstellationen aber gerät erst dann in den Blick, wenn ihre Selbstverständlichkeit schwindet, nicht nur individuell, sondern auch kulturell. Ganze Wissensdisziplinen gingen in der Geschichte der Moderne aus der Entdeckung des Geflechts hervor, in das Menschen eingebettet und zuweilen auch eingesperrt sind: Die Psychologie und insbesondere die Psychoanalyse, von Sigmund Freud 1886 begründet, deckt un- und unterbewusste Beziehungsmuster von Konstellationen in ihren Auswirkungen auf den Einzelnen auf und will ihm damit zu einem selbstbewussten Leben verhelfen. Die Soziologie , deren Begriff Auguste Comte 1838 prägte, erforscht die Konstellationen einzelner Gruppen und ganzer Gesellschaften, in deren Rahmen die Individuen den Beziehungsmustern mehr oder weniger ausgeliefert bleiben. Das weite Feld dazwischen besetzen zahlreiche Therapien und soziale Techniken: Die Soziometrie (Jakob Levy Moreno, 1953) ist überzeugt, mit der Messung der Nähe und Ferne zwischen Menschen die Dynamik ihrer Beziehungen systematisch erfassen zu können, um Störungen, Ängste und Missverständnisse zu beheben. Die Gestalttherapie (Fritz Perls, 1951) nimmt den einzelnen Menschen als »Gestalt« im Rahmen einer Konstellation wahr: Das Gewahrwerden,
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