Die Liebe atmen lassen
jeweilige Energie abgearbeitet ist und der Gegenpol wieder an Energie gewinnen kann: Wellengangprinzip des Lebens .
Vor allem das Phänomen der Liebe ist dem Wellengangprinzip unterworfen: Sie brandet an und zieht sich wieder zurück. Wie das sonstige Leben kann sie nicht immer konstant bleiben, vielmehr folgen auf stürmische Entwicklungen Phasen der Konsolidierung, auf Zeiten der Zuversicht solche der Ängstlichkeit, auf ein Vorankommen Rückschläge. Phasenweise ist das Wohlsein in der Beziehung zu genießen, um dann wieder mit einem Unwohlsein konfrontiert zu sein. Bei wachsender Liebe stört nichts am Anderen, bei schwindender alles, und dann wieder von vorne. Aufgrund der großen Intimität kann hier nichts überspielt werden, jede Stimmungsschwankung wird wechselseitig registriert und auf ihre Bedeutung hin befragt: »Was ist los mit dir?« Gerade in der anfänglichen Phase des Verliebtseins kommt es zu Irritationen: »Du bist so komisch, so anders als sonst!« Bei beiden Beteiligten geschieht das, aber nicht immer im gleichen Takt. Mangelnden Gleichklang zwischen den Liebenden gab es wohl zu allen Zeiten, aber in Zeiten, in denen die ständige Tuchfühlung zur Norm geworden ist, wird er stärker empfunden, und regelmäßig besteht die Schwierigkeit darin, zuverlässig zu erkennen, was im jeweiligen Moment geschieht, denn auch epochale Phasen entwickeln sich in episodischen Schritten: Eine Entfremdung voneinander kann lange dauern und gewährt zwischendurchhoffnungsvolle Phasen der Nähe. In welcher Phase befinde ich mich, in welcher der Andere? Wie verhalten sich die Phasen zueinander? Geht es um ein Zueinanderhin, ein Voneinanderweg, eine Belanglosigkeit?
Statt sich vergeblich gegen den Wechsel der Phasen aufzulehnen, kommt es darauf an, sich damit anzufreunden. Eine profunde Dialektik des Lebens wird darin erkennbar, zu der Menschen selbst beitragen, deren Interesse sich stets auf das Gegenteil dessen richtet, was ihre Gegenwart ausmacht: Was sie erreicht haben, wollen sie wieder verlassen, und wenn sie es verlassen haben, erkennen sie, was es ihnen bedeutet hat. Gesicherte Verhältnisse sind erreicht worden? Jetzt wird das Risiko interessant. Ein riskantes Leben ist gelebt worden? Jetzt wird Sicherheit wichtig. Möglichkeiten der freien Wahl sind ersehnt worden? Jetzt richtet sich alle Hoffnung auf die Befreiung von der Qual der Wahl. Es gibt keine Wahl? Dann gilt alle Leidenschaft der künftigen Freiheit der Wahl. Sinnlos, gegen diesen Reigen der Phasen anleben zu wollen, besser, mit ihm zu leben, ihn einfach geschehen zu lassen und die jeweilige Ausformung auszuleben , bis ihre Energie sich erschöpft, oder aber sie abzumildern , um sie verträglicher zu gestalten und länger zu bewahren. Möglich wäre auch, sie zu verstärken , damit sie sich rascher ins Gegenteil wendet, denn das Pendel muss nach der anderen Seite hin ausschwingen, bevor es zurückschwingen kann: »Eh nicht das Äußerste erreicht ist, kehrt sich nichts ins Gegenteil« ( Liä Dsï , taoistisches Buch um 350 v. Chr., IV, 10, »Wendepunkte«; Hermann Hesse notiert den Satz so in einer Ausgabe der Übertragung von Richard Wilhelm, 1911: Christian Immo Schneider, Hermann Hesse , 1991, 79). Daher ist auch am ehesten das, was sich verschlimmert, zu verbessern: Mit der Annäherung an den negativenPol wächst der »Leidensdruck«, der die Arbeit am Positiven verstärkt. Wird aber das Positive allein gesucht, macht sich im Gegenzug das Negative wieder stärker bemerkbar, und auch ein Zuviel des Guten schlägt ins Gegenteil um, nur um die Polarität wieder herzustellen.
Oft markieren Wendepunkte im Lebenslauf (Jürg Willi, 2007) den Umschlag in die jeweils gegenläufige Bewegung, wenn eine Beziehung zerbricht, eine Krankheit in den Alltag hereinbricht, eine Entlassung eine hoffnungsvolle Karriere abbricht. Auch Serien unscheinbarer Erfahrungen summieren sich zum großen Umschlag und verbiegen scheinbar geradlinige Lebenswege zu unregelmäßigen Schlangenlinien. Und auch von Zufällen wird eine Wende angestoßen, wenn ein Glücksfall die Karten neu mischt oder ein Unglück alles in Frage stellt und eine Neubesinnung erzwingt. Die Wende kann von außen kommen, wenn die Entscheidung eines Anderen die bisher gelebte Wirklichkeit unmöglich macht oder eine überraschende Begegnung neue Möglichkeiten eröffnet. Und die Wende kann von innen kommen, wenn eine Antriebsenergie aufgebraucht ist und eine innere Unruhe im Selbst die Suche nach neuen
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