Die Liebe atmen lassen
Lebensquellen in Gang bringt, eine Sehnsucht neue Energien aufspürt, mit deren Hilfe die mehr oder weniger überlegte Veränderung des Lebens leichter fällt. Jede Wende ist ein kleiner Tod und eine neue Geburt: Neue Aspekte kommen im jeweiligen Menschen zum Vorschein und schöpfen seine Möglichkeiten besser aus. Die Auflösung der bestehenden Struktur ist die Bedingung dafür, dass etwas Anderes und Neues entstehen kann; die populäre Rede von der »Krise als Chance« bringt das zum Ausdruck.
Das geht jedoch meist mit Desorientierung, Infragestellung von allem und jedem und neuerlicher Suche nachOrientierung im Fühlen und Denken einher, episodisch in kurzen Zeitabständen, epochal in einschneidenden Krisenzeiten, die mit einiger Verlässlichkeit das Leben strukturieren: Auf die große Verunsicherung der Pubertät folgt ein Jahrzehnt später die quarter-life-crisis , wieder ein Jahrzehnt darauf die »Torschlusspanik«, schließlich die midlife crisis mit den »Wechseljahren«, eine andere Art von Pubertät, die Physis und Psyche auf das Älterwerden einstimmt; für manche endet damit erst die Jugendzeit, bevor mit einer wieder gewonnenen kindlichen Unbefangenheit ruhigere Jahre und Jahrzehnte anbrechen. Fraglich ist nur, ob es sich dabei jeweils um eine Veränderung handelt, ein Anderswerden ohne bestimmte Richtung, oder ob sich mit der Veränderung auch Entwicklung vollzieht, Verbesserung, Vertiefung und Reifung, verbunden mit wachsender Einsicht in die Zusammenhänge des Lebens und größerer Umsicht der Antworten darauf. Aber auch Entwicklung geschieht nicht kontinuierlich, sondern diskontinuierlich im Hin und Her zwischen Gegensätzen, vorangetrieben vom Negativen im Positiven, vom Beängstigenden im Gewöhnlichen, vom Fehlerhaften im Richtigen, analog zu den Variationen und Mutationen der Evolution, die nichts anderes als Fehler sind, deren Sinnhaftigkeit sich erst im Nachhinein zeigt.
Grundlegender noch als alle Polarität des Lebens erscheint jedoch die des Seins ( on im Griechischen), mit deren Deutung die Ontologie , die Lehre vom Sein, befasst ist. Die Polarität des Seins spannt sich zwischen einem undifferenzierten, zeitlosen Sein, das die Seinsebene der Möglichkeit repräsentiert, oft als »eigentliches Sein« interpretiert, sowie einem ausdifferenzierten, zeitgebundenen Seienden, das die Seinsebene der Wirklichkeit prägt und oft für »uneigentlich« gehalten wird. Möglichkeiten sind ihrer Natur nach wenig greifbar, wenig sterblich,die jeweilige Wirklichkeit aber wird dominiert von greifbaren, sterblichen Subjekten und Objekten. Eine Besonderheit des sterblichen Wesens Mensch ist sein ontologisches Bewusstsein davon, dass es außer dem gelebten Leben in der momentanen Wirklichkeit ein ungelebtes Leben im weiten Reich der Möglichkeiten gibt. Der Mensch ist ein Möglichkeitstier, aber eine zusätzliche Besonderheit des Menschseins in moderner Zeit ist das ontologische Leiden daran, dass viele neu eröffnete Möglichkeiten des Lebens, Liebens, Arbeitens, Reisens unmöglich in einem einzigen Leben verwirklicht werden können. Anders als nichtmoderne Menschen, die kaum über Möglichkeiten verfügen, sind moderne dazu verurteilt, immerzu Möglichkeiten auszulassen ( elidere im Lateinischen), also eine elisionäre Existenz zu führen: Am nichtgelebten Leben beginnen sie zu leiden, und sollten sie doch noch etwas davon leben können, bleibt dafür wiederum ein anderes Leben ungelebt.
Der Einzelne erfährt dies an sich selbst, wenn er Möglichkeiten, die er in sich fühlt, als sein eigentliches Sein identifiziert: »Ich bin nämlich eigentlich ganz anders.« Der zu werden, der er eigentlich ist, würde erfordern, das wirklich werden zu lassen, was seine ganz anderen Möglichkeiten sind: »Nur komme ich so selten dazu«, heißt es in Ödön von Horváths Theaterstück Zur schönen Aussicht (1926). Das hat Gründe, denn in der Wirklichkeit stellen sich Hindernisse in den Weg: Alltägliche Erfordernisse, wirtschaftliche Notwendigkeiten, eigenes Unvermögen, der Unwille Anderer. Persönliche Entwicklung aber gibt es nur mit der allmählichen Verwirklichung des eigentlichen Seins, mit der »Auswicklung« der im Selbst angelegten und vielleicht durch Bildung und Übung hinzugewonnenen Möglichkeiten, sodass gegen alle Widerstände wirklich etwas daraus werden kann, zumindest teilweise.
Auch bei der Entwicklung in Beziehungen geht es um die Verwirklichung dessen, was »eigentlich« möglich ist – und die
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