Die Liebe atmen lassen
au pouvoir . »Die Phantasie an die Macht«, das ist das neuerliche Geltendmachen des romantisch inspirierten modernen Anliegens, der Vorstellungskraft Raum zu geben, um in einer verengten Wirklichkeit den Horizont der Möglichkeiten von Neuem aufzureißen.
So sehr Phantasien aber an Macht gewinnen, so wenig kann die Wirklichkeit deckungsgleich mit ihnen sein: Phantasien gehören dem Reich der Möglichkeiten an, ihre Umsetzung jedoch dem Reich der Wirklichkeit , mit weniger traumhaften, zuweilen traumatischen Ergebnissen. »Verantwortlich« dafür sind in erster Linie die notorische Begrenztheit der Wirklichkeit, die dem weiten Reich der Möglichkeiten nie entsprechen kann, und die Endlichkeit des Lebens, die jeder Verwirklichung zeitliche Grenzen setzt. Beim Übergang zum wirklich Seienden wird das erträumte Sein banalisiert und trivialisiert und verliertsich in der Beiläufigkeit des Alltäglichen. Menschen träumen, und mehr als jemals erwarten sie in moderner Zeit auch die Realisierung ihrer Träume, möglichst ohne Einbußen. Aber nicht alle Träume werden wahr, und selbst in der Realisierung, die gelingt, ist der ursprüngliche Traum nicht immer wiederzuerkennen. Im privaten Leben wie auch in der Geschichte der Gesellschaft führt das regelmäßig zu einer ontologischen Enttäuschung , und so folgen auf Zeiten der utopischen Hoffnung Zeiten der Enttäuschung über jede Utopie. Enttäuscht ist dabei nicht so sehr der beharrende , bewahrende Mensch, der ohnehin nicht von Möglichkeiten über die bestehende Wirklichkeit hinaus träumt, sondern der bewegte , aufbegehrende Mensch, der sich fortan ins Reich der Träume, Ideen und Ideale zurückzieht, hinter denen zurückzubleiben ihm als Versagen und Verrat gilt. Versagen gibt es zwar auch in der Welt des Traums, aber es schmerzt deutlich weniger: Es wird einfach der nächste Traum geträumt.
Die Enttäuschung kann in eine ontologische Melancholie münden, in ein Traurigsein, gefühlvoll und höchst reflektiert, über die Schwierigkeiten, Träume zu verwirklichen, über das ewige Zurückbleiben der Wirklichkeit hinter den Möglichkeiten und darüber, dass alles, was wirklich wird, endlich ist. Nie können Wirklichkeit und Möglichkeiten miteinander verschmelzen, jede Verwirklichung lässt Möglichkeiten offen, nie kann das Seiende mit dem Sein identisch sein, jedes reale Anderswerden verweist nur wieder auf ein mögliches Anderssein. Das kann sich zur ontologischen Depression verfestigen, bei der alles Denken und Fühlen nur noch um die verlorenen Möglichkeiten kreist. Melancholisch oder gar depressiv werden Menschen vor allem, wenn sie an der ontologischen Entzweiung leiden, die im alltäglichen Sosein zwischen Selbst und Anderenwie auch zwischen Selbst und Welt vorherrscht, während das eigentliche Sein doch ein Einssein ist. Aber nur im Reich der Möglichkeiten kann das Eine angesiedelt sein, dem Menschen vielleicht entstammen und nach dem sie sich im Leben und in der Liebe zurücksehnen, bis sie in dichten Momenten voller Möglichkeiten das Eine sogar wieder erleben. Nach jeder überwältigenden Erfahrung sind sie dann nicht mehr eins, sondern wieder entzweit, zurück im Reich der Wirklichkeit.
Lebenskunst ist das bewusste Bemühen eines Menschen, sich mit der ontologischen Differenz zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit zu befreunden und im Hin und Her dazwischen mitzufließen , sich willentlich in der Wirklichkeit einzurichten und mithilfe von Vorstellungen, Ideen, Träumen und Phantasien immer wieder Möglichkeiten aufzutun. So wird anstelle der Konfrontation eine Kooperation der Seinsebenen möglich. Phasenweise beansprucht das Sosein, dann das Anderssein Raum, dem Lebensfluss entsprechend, der das Mäandern liebt, mal zu dieser, mal zu jener Seite hin, mal als Rinnsal und mal als reißender Strom. Jedes Auftun von Möglichkeiten erschließt einen Raum der Freiheit , befreit von Vorgaben, frei zu eigenen Festlegungen, um auf die jeweilige Wirklichkeit einzuwirken und sie zu verändern. Jede Verwirklichung von Möglichkeiten aber bringt eine neuerliche Begrenzung der Freiheit mit sich, sei es, weil der freie Mensch sich selbst begrenzt, oder weil die Bedingungen der jeweiligen Wirklichkeit seine Freiheit begrenzen, wie dies vielfach geschieht: Biologische, genetische, neurobiologische, psychologische, familiäre, soziale, kulturelle, historische, politische, ökonomische, ökologische, klimatische und meteorologische Faktoren wirken auf einen Menschen
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