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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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ein und machen einen Großteil seiner Lebenswirklichkeit aus, vielleicht 95 Prozent. Der Raum seinerfreien Wahl und Selbstbestimmung reduziert sich, so gesehen, auf einen unbedeutend erscheinenden Rest, vielleicht fünf Prozent. Ist das nicht entmutigend? Aber entscheidend ist die Frage: Wo sind meine fünf Prozent? Und was mache ich daraus? Und sollte auch diese Freiheit noch eine Illusion sein, dann ist sie eben eine schöne Illusion: Ohne sie erschiene das Leben weniger bejahenswert. Eine konstante Unruhe gilt zwar der Frage, welche Möglichkeiten über die bestehenden Bedingungen hinaus eröffnet werden können. Aber die Kunst des Lebens und Liebens besteht auch darin, möglichst gekonnt mit den Bedingungen leben zu lernen, die nicht oder nicht so ohne Weiteres zu ändern sind. Immerhin gewährleisten sie die Beharrung, auf die ein bewegtes Leben angewiesen ist.

Beharrung und Veränderung:
Zur Statik und Dynamik von Beziehungen
    Ein Grundelement des menschlichen Lebens und aller Wesen, Dinge und Verhältnisse ist das Bewegtsein , eine Form des Seins, die sich dadurch auszeichnet, dass nichts bleibt, wie es ist, alles sich ändert, ganz im Gegenteil zum Unbewegtsein , bei dem alles bleibt, wie es ist, auch wenn das kaum möglich ist. Das scheinbare Unbewegtsein steht dem Bewegtsein entgegen, bietet ihm aber auch den Gegenhalt, durch den die Bewegung überhaupt erst erfahrbar wird. Bewegung ist Veränderung , aber alle Veränderung braucht als Kontrast das scheinbare Unbewegtsein, die Beharrung , so wie Beharrung Veränderung braucht, gegen die sie sich abgrenzen und von der sie sich absetzen kann. Beharrung kann Veränderung nicht aufhalten, nur hinhalten, sodass den von ihr Betroffenen Zeitbleibt, sich an sie zu gewöhnen. Verstetigt sich aber die Veränderung, nimmt sie selbst den Charakter einer Beharrung an. Umgekehrt ist die Beharrung bei genauerem Hinsehen selbst nur eine verzögerte Veränderung, eine Bewegung in anderen Zeiträumen, unendlich viel langsamer als die deutlicher wahrnehmbare Bewegung. Im Grunde ist also alles in Bewegung, oder kürzer, in der Heraklit zugeschriebenen Formel: »Alles fließt« ( panta rhei ).
    Die Polarität von Beharrung und Veränderung und ihre gesamte komplizierte Dialektik sind von Interesse, wenn es darum geht, Statik und Dynamik menschlicher Beziehungen besser zu verstehen. Eine Beziehung entsteht am ehesten dann, wenn es eine beharrliche Bezugnahme eines Menschen auf einen Anderen gibt; nur virtuelle Beziehungen kommen ohne jede Beharrung aus. Ist die entstandene Beziehung jederzeit offen für Veränderung, gewinnt sie keine Festigkeit; allzu feste Beziehungen ohne Bereitschaft zur Veränderung aber sind vom Zerbrechen bedroht. Eine Veränderung kann heteronom , von außen, von Anderen, auch von anderen Veränderungen und Geschehnissen angestoßen werden, oder wird autonom , eigengesetzlich und selbsttätig vom Einzelnen in Gang gebracht. Geschieht sie nur auf einer Seite der Beziehung, provoziert sie auch auf der Gegenseite Veränderung, die innerlich abgelehnt werden kann und dennoch nicht aufzuhalten ist; die Bereitschaft, sie geschehen zu lassen, ermöglicht die gelassene Hinnahme. Wer sich verändern will, kann sich vom Anderen verändern lassen; wer eine Veränderung des Anderen will, kann bei sich selbst beginnen: Die eigene Veränderung zieht die des Anderen nach sich. Derjenige aber, der dem Leben des Anderen Veränderung zumutet, liebt sie für sich selbst meist gar nicht; wird er aus seiner Beharrung aufgescheucht, kann ersehr ungehalten sein: Der Andere soll sich verändern, damit er selbst der Veränderung entgeht. Die eigene starre Beharrung verstärkt die Angst vor Veränderung, so wie die Gewöhnung an Veränderung eine Angst vor Beharrung erzeugt.
    Nicht das objektive Faktum, sondern die subjektive Deutung von Beharrung und Veränderung steht dabei jeweils in Frage: Wenn alles bleiben soll, wie es ist, wird jede Veränderung als Last empfunden, während die Beharrung im Gegenzug als Lust erscheint. Die Beharrung wiederum, die eine erwünschte Bewegung verhindert, wird als Last empfunden, während die Veränderung Lust erzeugt, wenn endlich in Fluss kommt, was erstarrt war, und für neuen Schwung des Lebens sorgt. Demjenigen, der die Beharrung für wesentlich hält, da sie der natürlichen Trägheit der Dinge und des eigenen Selbst entspricht, fällt sie leicht , die Veränderung hingegen, die gegen die Trägheit erkämpft werden muss, schwer .

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