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Die Liebe atmen lassen

Die Liebe atmen lassen

Titel: Die Liebe atmen lassen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Schmid
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immer neue Konfrontation damit, dass das, was möglich ist, nicht immer genau das sein kann, was wirklich wird. Möglich ist alles, wirklich aber wird nur diese Ausformung des Lebens mit diesem Menschen unter den gegebenen Umständen. Wird diese Wirklichkeit als beengend empfunden, setzt die Suche nach neuen Möglichkeiten ein, innerhalb oder außerhalb der bestehenden Beziehung. Phasen voller Möglichkeiten sind Phasen voller Energie und müheloser Motivation; sie wechseln sich ab mit Phasen der gelebten Wirklichkeit, geprägt von schwindender Energie und nachlassender Motivation bis zur völligen Antriebslosigkeit, die irgendwann die Suche nach neuen Möglichkeiten erzwingt, um die bestehende Wirklichkeit zu verändern, bevor die veränderte Wirklichkeit ihrerseits wieder zu eng wird: Aspekte einer Atmung des Lebens und der Liebe auch hier.
    In Momenten des ontologischen Übergangs vom Möglichsein zum Wirklichwerden und zurück, episodisch wie epochal, scheinen die Seinsebenen in Unruhe zu geraten, zu zittern und zu vibrieren, spürbar bei der Kollision der Welt des Traums , diesem faszinierenden Reich unendlicher Möglichkeiten im eigenen Inneren, mit der erschreckenden Bestimmtheit der Wirklichkeit da draußen schon beim morgendlichen Aufwachen: Aus gutem Grund verharren manche Menschen lieber in der Fülle der Traumwelt und gönnen der nüchternen Wirklichkeit nur einen Schimmer des Bewusstseins. Und auch bei anderen Gelegenheiten fällt es schwer, das Reich der Möglichkeiten zugunsten einer Wirklichkeit zu verlassen, die doch meist weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibt; umgekehrt kann es auch schwer fallen, eine vertraute Wirklichkeit zugunstenunbestimmter Möglichkeiten hinter sich zu lassen, etwa beim abendlichen Einschlafen. Schwierigkeiten bereitet der ontologische Übergang beim Eintauchen in eine Narkose ebenso wie beim Aufwachen aus ihr, beim Aufbruch zu einer Reise und umgekehrt bei der Rückkehr von ihr, immer mit der Gefahr, aus der bestehenden Wirklichkeit nicht so recht heraus- oder in sie hineinzufinden und in einer Zwischenwelt »hängenzubleiben«. Als angenehm, zuweilen sogar überwältigend wird der Übergang erlebt, der aus einer allzu sehr verengten Wirklichkeit heraus- und ins Reich der Möglichkeiten hineinführt, beim Eintauchen in ein Buch, einen Film, in rauschhafte Erfahrungen aller Art. Umso unangenehmer, ernüchternder fällt demgegenüber das Ende der Lektüre, der Abspann des Films, der »Kater« nach dem Rausch aus.
    Ein regelrechter ontologischer Kampf wird stets von Neuem ausgefochten, wenn sich aktuelles Sosein und potenzielles Anderssein in die Quere kommen. Das mögliche Anderssein setzt Instrumente der Verlockung, Verführung und Überwältigung ein, das wirkliche Sosein aber verlässt sich ganz auf das Gesetz der Trägheit. Der Streit um das, was möglich ist und dennoch wirklich bleiben soll, das Beharren der herrschenden Wirklichkeit auf ihrem älteren Recht, treibt krisenhafte Zuspitzungen individueller, aber auch gesellschaftlicher Verhältnisse hervor, und er endet nie: Nach jeder Verwirklichung, auch nach jedem Verzicht darauf lebt er von Neuem auf. Der Kampf wird befeuert vom ontologischen Ressentiment , dem unguten Gefühl, eine Wahl sei falsch getroffen worden, jede andere Möglichkeit wäre die bessere Alternative gewesen, die bewährte Wirklichkeit hätte festgehalten werden müssen usw. Auch gegen eine bewährte Wirklichkeit kann das Ressentiment sich richten und biographisch wie historisch dazuführen, auf ein Sosein böse zu sein und bestimmte Personen oder Gruppierungen für die Verweigerung des Andersseins verantwortlich zu machen.
    Gerne üben Menschen Rache an einer Wirklichkeit, die keinerlei Möglichkeiten mehr bietet, sodass Langeweile sich breit macht, denn alles erscheint verzeihlich, nur dies Eine nicht: Langeweile . Sie ist ein Sterben vor der Zeit und fordert die Skandalisierung des Lebens geradezu heraus, wie Oscar Wilde sie vorgeführt hat. Ein Mensch spürt die Verpflichtung zum Skandal in sich, wenn das Leben zum Erliegen kommt: Er echauffiert sich, heizt sich also auf, Andere auch, um die Spannung neu zu fühlen, die das Leben »interessant« macht. Gefährlich ist die Langeweile insbesondere in der Liebe, aber auch historisch darf man Großes erwarten, wenn Menschen sich langweilen, wie einst in Frankreich, als Le Monde am 15. März 1968 postulierte: La France s’ennuie . Von der Straße schallte die Antwort zurück: L’imagination

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