Die Liebe atmen lassen
Umgekehrt fällt die Veränderung leicht , wenn sie für wesentlich gehalten wird, da sie doch in allem wirksam ist, die Beharrung aber schwer , da sie der Eigendynamik der Bewegung widerspricht. Wird eine schnelle Bewegung erwartet, weil etwas eilt, erscheint Langsamkeit hinderlich und wird als nervig empfunden; willkommen hingegen ist die Langsamkeit, wenn Schnelligkeit misslich erscheint und nervt, da sie keine Atempause mehr erlaubt, etwa bei der raschen Abfolge von Eindrücken im Film oder auf einer Reise. Die Energie , die in der Beharrung nur schlummert, wird in der Veränderung erfahrbar; häufen die Veränderungen sich aber, zeigt sich, wie viel Energie sie doch kosten , die sich nur in der Beharrung wieder sammeln kann.
Die Polarität von Beharrung und Veränderung ist eine Ausformung der ontologischen Differenz . Jede Beharrung hält an einer Wirklichkeit fest und torpediert Möglichkeiten, jedeVeränderung stellt eine Wirklichkeit in Frage und eröffnet Möglichkeiten. In der modernen Kultur ist es jedoch üblich geworden, auch von dieser Polarität nur einen Pol übrig behalten zu wollen; daher die beharrliche Forderung nach »mehr Bewegung«, größerer Bereitschaft zur Veränderung des Selbst und seiner Beziehungen zu Anderen, umfassender Mobilität und Flexibilität im Berufsleben. Dass die moderne Kultur in ebensolchem Maße eine Verherrlichung der Veränderung betreibt, wie nichtmoderne Kulturen deren Verweigerung, hat historische Gründe: Die Unbeweglichkeit der Verhältnisse, von der Bewegung der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert als Ursache für Armut, Elend und Not identifiziert, war anders nicht aufzulösen. Für die Modernisierung reichten Veränderungen, die gewöhnlich längere Zeiträume für sich in Anspruch nehmen, nicht aus; daher die Verkürzung der Zeitintervalle, die vorsätzliche Beschleunigung in der Moderne, um mit einer kulturellen Evolution , einer unablässigen Flut von Variationen und Mutationen in Form von Neuerungen, Reformen und Revolutionen, die natürliche Evolution zu potenzieren und dem individuellen und gesellschaftlichen Leben die Auslese zu überlassen, was davon brauchbar ist. Die Befreiung von der Beharrung alter Verhältnisse war erfolgreich genug, um die ständige Veränderung und Erneuerung zum Selbstzweck zu machen; eine Entwicklung zum Besseren musste nicht mehr zwangsläufig damit verbunden sein. Mit dem Tempo äußerer Veränderungen innerlich Schritt zu halten, wurde den einzelnen Individuen aufgebürdet; immer mehr Menschen aber fühlen sich fremd in der rasch sich wandelnden Welt, und in ihren Beziehungen kommen sie nicht mehr an gegen die Auseinanderentwicklung zwischen ihnen, die von den unablässigen Veränderungen im Umfeld befördert wird.
Unabänderlich scheint Veränderung vorzuherrschen, auf allen Ebenen des Menschseins, schon rein körperlich , beruhend auf dem äußerlichen Bewegtsein in Raum und Zeit: Im Raum , insofern moderne Menschen nicht mehr an einen Ort gebunden sind, sondern sich beliebig davon entfernen können, zielgerichtet oder ziellos, bevor sie vielleicht bogenförmig zum Ausgangsort zurückkehren. Im Zuge ihrer Bewegung im Raum begegnen sie zahllosen Anderen und machen vielfältige Erfahrungen, durch die sie verändert werden, und je raumgreifender die körperliche Bewegung, auch die unkörperliche im uferlosen virtuellen Raum, desto vielfältiger fallen die möglichen Begegnungen und Veränderungen aus. Hinzu kommt die Bewegung in der Zeit , der Menschen naturgemäß unterworfen sind, sodass sie selbst bei mangelnder Bewegung im Raum dennoch von der Zeit bewegt werden, die jedem Versuch zur Beharrung widersteht: Von Moment zu Moment, von Phase zu Phase, auch durch natürliche Zyklen hindurch werden sie körperlich verändert, nicht kontinuierlich, eher in Sprüngen vom jeweiligen Sosein zum Anderswerden. Nichts am Körper ist beständig, alles ist ständig im Umbau begriffen, auch neuronal (denn es gibt Neuroplastizität) und genetisch (denn das System des Genoms ist nie vollendet). Körperliche Veränderungen machen dem modernen Menschen vor allem dann zu schaffen, wenn sie ihn sichtbar altern lassen, ein Prozess, der nicht selten auf die Beziehungen zu Anderen zurückwirkt; daher die wachsende Popularität von »Anti-Aging« und Schönheitsoperationen. Aber auf Jugendlichkeit beharren zu wollen, ist letztlich vergeblich: Irgendwann schließt sich der große Kreis des Lebens, und daran, dass das Ende zu einem neuen Anfang
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